VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 29.10.2019 - 2 A 704/17 - asyl.net: M30705
https://www.asyl.net/rsdb/m30705
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politischen Aktivisen, der sich in Pakistan für die Unabhängigkeit Belutschistans einsetzt:

Personen, die sich in Pakistan oder im Exil öffentlich für die Unabhängigkeit Belutschistans einsetzen, droht bei Rückkehr Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, Belutschistan, politische Verfolgung, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die pakistanische Provinz Belutschistan hatte zur Volkszählung 2017 12,3 Millionen Einwohner. Von der Gesamtbevölkerung Pakistans (ca. 207,7 Millionen Menschen) sind 3,6% (knapp 7,5 Millionen) belutschische Volkszugehörige. Die Provinz ist durch eine Vielzahl von Konflikten belastet, zum Beispiel Auseinandersetzungen zwischen dem pakistanischen Staat und Nationalisten, Stammesfehden sowie ethnisch und religiös motivierte Spannungen. Es existiert eine aus zahlreichen bewaffneten und unbewaffneten Gruppierungen bestehende separatistische Bewegung, die eine Abspaltung von Pakistan bzw. zumindest politische Autonomie anstrebt. Führende Akteure sind dabei die Belutschistan Liberation Army (BLA) und die Baloch Liberation Front (BLF). Weitere aktive bewaffnete Gruppierungen sind die Baloch Republican Army (BRA) und die Lashkar-e-Balochistan (LeB; vgl. zu alledem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Pakistan, Stand: 28.05.2019, S. 16 ff. und S. 73 ff.). Zahlreiche Organisationen sind in Pakistan verboten, u. a. die BLA, die BLF, die BRA, die LeB, die Baloch Republican Party Azad, die Balochistan United Army, die Balochistan National Liberation Army, die Baloch Student Organization Azad (BSO-A) und die United Baloch Army (UBA; vgl. Home Office UK, Country Policy and Information Note, Pakistan, Security and humanitarian situation, including fear of militant groups, Januar 2019, S. 26 f.).

In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu terroristischen Angriffen dieser Gruppen und zu entsprechenden Reaktionen des pakistanischen Militärs und der Sicherheitskräfte. Das BFA (a.a.O) spricht von 20 Anschlägen von Separatisten im ersten Quartal 2019, von 74 (S. 17) bzw. 63 (S. 74) Anschlägen in 2018 und von 131 (S. 17) bzw. 132 (S. 74) Anschlägen in 2017. Als Reaktion gab es jeweils zahlreiche Militäraktionen gegen Aufständische sowie - wie bereits in den Vorjahren - weiterhin viele Fälle illegaler Verhaftungen und des "Verschwindenlassens" belutschischer Bürger. Organisationen, die sich die Unabhängigkeit Belutschistans von Pakistan zum Ziel gesetzt haben, droht als separatistisch eingestuften Gruppierungen von den pakistanischen Behörden und Sicherheitskräften Verfolgung (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 06.07.2017 an das VG Wiesbaden). Es existieren zahlreiche Berichte, wonach staatliche Stellen willkürliche oder rechtswidrige Tötungen begangen haben sollen. Den Sicherheitskräften werden politisch motivierte außergerichtliche Tötungen belutschischer Nationalisten im Zusammenhang mit den bestehenden Konflikten vorgeworfen (vgl. z. B. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Pakistan, Stand: 04.05.2017, S. 85). Paramilitärische Gruppierungen, die der Regierung oder dem Geheimdienst naheständen, machten Jagd auf belutschische Aktivisten und Politiker. Es werde von 21.000 vermissten Menschen berichtet und immer wieder tauchten die Leichen Verschwundener auf, meist übersät mit Folterspuren (Emran Feroz, Vergessenes Belutschistan, Bericht vom 28.05.2015, Quantara.de). In seiner Aussage vor dem Ausschuss für Menschenrechte des pakistanischen Senats erklärte der Stellvertretende Generalinspektor des Belutschistan Frontier Corps, einer paramilitärischen Gruppierung, in Belutschistan seien in den Jahren 2015 und 2016 1.040 Personen getötet worden. In fast allen Gebieten des Landes gab es Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen unterschiedlicher Herkunft. Polizei- und Sicherheitskräfte hielten Berichten zufolge Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt fest und weigerten sich, ihren Aufenthaltsort offenzulegen. Menschenrechtsorganisationen berichteten von vielen belutschischen Nationalisten unter den Vermissten (United States Department of State, Pakistan 2016 Human Rights Report, 03.03.2017, S. 2, 4 und 5). Das "Frontier Corps" soll in den letzten Jahren hunderte von Sympathisanten der belutschischen Separationsbewegung entführt, gefoltert und getötet haben (European Asylum Support Office - EASO -, Country of Origin Information Report - Pakistan Security Situation, 01.07.2016, S. 43).

Die extralegalen Tötungen belutschischer Volkszugehöriger werden nicht nur medial verschwiegen (vgl. zur Einschüchterung der lokalen Presse durch die pakistanische Regierung und die Sicherheitskräfte und zu der hierauf beruhenden Einschränkung der Berichterstattung BFA, a.a.O., Stand: 28.05.2019, S. 16). Für sie wird auch niemand zur Verantwortung gezogen. Die Polizei versucht gar nicht erst, diese Verbrechen aufzuklären (vgl. The Guardian, 29.03.2011, Pakistan's secret dirty war, abrufbar unter: www.theguardian.com/world/2011/mar/29/balochistan-pakistans-secret-dirtywar, Auszug, ins Deutsche übersetzt: "Die Kräfte von Recht und Ordnung scheinen auch gegenüber der Not der Toten merkwürdig gleichgültig zu sein. Keine einzige Person wurde verhaftet oder strafrechtlich verfolgt. Tatsächlich geben die Ermittler der Polizei offen zu, dass sie nicht einmal jemanden suchen. Der erstaunliche Mangel an Interesse an Pakistans größtem Mord-Geheimnis seit Jahrzehnten wird jedoch verständlicher, als sich herausstellt, dass der Hauptverdächtige keine zwielichtige Bande sadistischer Serienmörder ist, sondern das mächtige Militär des Landes und seine nicht rechenschaftspflichtigen Geheimdienstler."). Auch Amnesty International (Auskunft vom 20.02.2019 an das VG Braunschweig) teilt mit, bis heute sei in Pakistan keine einzige mutmaßlich für Fälle des Verschwindenlassens verantwortliche Person zur Rechenschaft gezogen worden. Die UN-Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen habe nach ihrem letzten Pakistanbesuch 2012 bemerkt, dass "in Pakistan hinsichtlich des Verschwindenlassens ein Klima der Straflosigkeit" herrsche und dass den "Behörden der Wille fehlt, Fälle von Verschwindenlassen zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen". Nach den Beobachtungen von Amnesty International hat sich diese Situation in den vergangenen sechs Jahren nicht verbessert. Vielmehr habe sich die Praxis des Verschwindenlassens, die einst auf die Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa beschränkt gewesen sei, mittlerweile auch in den großen städtischen Zentren Pakistans immer weiter ausgebreitet und auf andere Landesteile übergegriffen. [...]

Dem Kläger steht in Pakistan auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Zwar geht das Gericht regelmäßig davon aus, dass Asylbewerber aus Pakistan in anderen Teilen ihres Heimatlands,  insbesondere in den Großstädten wie Rawalpindi, Lahore, Karatschi, Peshawar oder Multan, eine interne Schutzmöglichkeit i.S.v. § 3e AsylG finden können. Im Fall des Klägers gilt dies jedoch nicht, denn es ist  bereits nicht gewährleistet, dass er einen Ort, an dem er Schutz finden könnte, überhaupt ungefährdet erreichen kann. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts werden aus Europa nach Pakistan zurückkehrende Asylsuchende grundsätzlich einer Befragung unterzogen (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, Stand: Mai 2019, S. 25). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behörden einen besonderen Anlass für eine solche Maßnahme sehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.08.2018 an das VG Freiburg). Hiervon ist im Fall des Klägers auszugehen, der nach Aussehen und Sprache als belutschischer Volkszugehöriger erkennbar ist (vgl. Amnesty International, Auskunft vom 20.02.2019 an das VG Braunschweig) und von dessen exilpolitischen Aktivitäten für die Organisationen BNM und HRCB die pakistanischen Behörden - dies ist nach dem Vorstehenden anzunehmen - Kenntnis erlangt haben. Dem Gericht sind Berichte bekannt (vgl. z. B. Amnesty International, Auskunft vom 20.02.2019 an das VG Braunschweig), wonach zurückkehrende Belutschen im Rahmen dieser Befragung für längere Zeit festgehalten und gefoltert wurden. Der Kläger würde somit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bereits bei der Einreise in die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung geraten. Die Annahme einer inländischen Fluchtalternative scheidet des Weiteren deshalb aus, weil wirksamer Schutz im Herkunftsland voraussetzt, dass der Schutzsuchende am Zufluchtsort unter vergleichbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen wie andere ein normales Leben führen kann, was die Ausübung und Inanspruchnahme bürgerlicher und politischer Rechte einschließt (Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3e Rn.19 und 24). Vorliegend wäre ein Untertauchen des Klägers in der Anonymität der pakistanischen Großstädte jedoch damit verbunden, dass er das Eintreten für die Volksgruppe der Belutschen und damit seine politischen Überzeugungen aufgeben müsste, um nicht erneut in den Fokus staatlicher Stellen zu geraten. Ein derartiger Verzicht auf seine politische Arbeit ist dem Kläger nicht zumutbar. [...]