OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 27.04.2022 - 5 A 619/15.A - asyl.net: M30720
https://www.asyl.net/rsdb/m30720
Leitsatz:

Keine drohende Verfolgung für Person aus Libyen, deren Funktion im Gaddafi-Regime nicht hochrangig war:

"1. Im Falle der Rückkehr nach Libyen sind Personen, die im Gaddafi-Regime keine hochrangigen politischen, administrativen oder militärischen Funktionen innehatten oder in nicht herausgehobener Position in systemnahen sicherheitsrelevanten Bereichen, wie etwa der Rüstungsindustrie, gearbeitet haben, nicht besonders gefährdet. [...]

2. In Libyen liegt weiterhin landesweit kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor (im Anschluss an das Urteil vom 6. Oktober 2021 - 5 A 486/19.A -)."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht hinsichtlich Ls. 2: VG Berlin, Urteil vom 27.05.2020 - 19 K 93.19 A - asyl.net: M28545)

Schlagwörter: Libyen, politische Verfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Rüstungsindustrie, Gaddafi,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

31   Angesichts dessen geht der Senat davon aus, dass nicht nur Familienangehörige von Personen, die im Gaddafi-Regime keine hochrangigen politischen, administrativen oder militärischen Funktionen innehatten oder in nicht herausgehobener Position in systemnahen sicherheitsrelevanten Bereichen, wie etwa der Rüstungsindustrie, gearbeitet haben, nicht besonders gefährdet sind, sondern auch diese Personen selbst. [....]

34   cc) Der Kläger hatte bis März 2011 keine herausgehobene Stellung im Gaddafi-System inne. Er hat zwar in einem systemnahen und sicherheitsrelevanten Bereich gearbeitet. Seine Tätigkeit war aber sehr untergeordnet (er war lediglich Vorgesetzter von neun Mitarbeitern, bis zum Leiter der Einrichtung hat es noch verschiedene hierarchische Ebenen gegeben, er war weder in der Forschung noch in der Produktion tätig, sondern lediglich in untergeordneter Position in dem Hilfs- und Unterstützungsbereich der Sicherheit). Von verwandtschaftlichen oder persönlichen Beziehungen zur Familie Gaddafi oder zu anderen herausgehobenen Vertretern des früheren Regimes berichtet der Kläger nicht. Auch die Huldigung Gaddafis mit der Waffe im März 2011 war so, wie es der Kläger schildert, ein Massenphänomen der unmittelbaren Revolutionszeit und ist für eine etwaige Verfolgung mehr als zehn Jahre danach nicht mehr relevant. Hinsichtlich der sehr teuren Krankenbehandlung des Klägers in Deutschland hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass aus ihrer Inanspruchnahme nicht darauf geschlossen werden kann, dass sie allein exponierten Vertretern des Gaddafi-Regimes vorbehalten war; dagegen spricht bereits der Umstand, dass der Kläger eine solche erhalten hat, er jedoch, wie bereits ausgeführt, weder eine persönliche Nähebeziehung noch eine auch nur annähernd herausgehobene Stellung innehatte. Im Übrigen wird die medizinische Behandlung im Ausland weiterhin praktiziert. Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 19. April 2022 aus, der libysche Staat bringe im Hinblick auf die schlechte medizinische Versorgung hohe Summen auf, um seine Staatsangehörigen im Ausland (vorzugsweise Deutschland) versorgen zu lassen. [...]

46   Libyen bleibt weiterhin, wie es das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 19. April 2022 formuliert, ein fragmentiertes, fragiles Land mit eingeschränkter Staatlichkeit und weitgehend gespaltenen Institutionen. Menschenrechte werden staatlich weder effektiv geschützt noch konsistent gefördert. Gewalt und Straflosigkeit sind verbreitet. Ein einheitliches und funktionierendes Justizsystem steht nur begrenzt zur Verfügung. Es gibt, wie im Bericht von EASO beschrieben, ein hohes Maß an Gewalt. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in dem Sinne, dass die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder dass zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, besteht derzeit jedoch nicht mehr. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. April 2022, soweit es dort heißt, beide Seiten (also die Regierungen Dbeiba und Bashagha) hätten Milizenkräfte mobilisiert, bislang scheinen alle jedoch eine gewaltsame Konfrontation vermeiden zu wollen. Auch hieraus ergibt sich nicht, dass die Lage in Libyen in absehbarer Zeit „kippen“ wird. Solches ergibt sich auch nicht daraus, dass es in der Nacht zum 10. Februar 2022 zu einem gescheiterten Attentat auf Ministerpräsident Dbeiba gekommen sein soll (NZZ v. 11. Februar 2022), da Berichte über vergleichbare Ereignisse in der Folgezeit nicht bekannt sind. [...]