VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 09.05.2022 - M 30 K 21.32746 - asyl.net: M30725
https://www.asyl.net/rsdb/m30725
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft wegen drohender weiblicher Genitalverstümmelung in Sierra Leone:

1. Unbeschnittene Mädchen bzw. minderjährige Frauen werden in Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von FGM ("Female Genital Mutilation").

2. Eltern haben nicht die alleinige Entscheidungsgewalt darüber, ob FGM angewandt wird. Die Großfamilie und das soziale Umfeld haben wesentlichen Einfluss auf diese Entscheidung.

3. Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist nicht zu erlangen, weil FGM landesweit praktiziert wird und weil die Klägerin und ihre Eltern ohne Unterstützung durch die Großfamilie nicht in der Lage wären, ihr Existenzminimum zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sierra Leone, Genitalverstümmelung, FGM, minderjährig, Flüchtlingsanerkennung, Frauen, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, geschlechtsspezifische Verfolgung, Bondo,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

15 1.2 In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff AsylG bei der Klägerin vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ist gegeben.

16 1.2.1 Die gegen den Willen der Betroffenen durchgeführte weibliche Geneitalverstümmelung ist eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, die i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG eine schwerwiegende, der Folter vergleichbare Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, des Rechts auf Leben und des Selbstbestimmungsrechts darstellt (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 15.8.2014 - 13 K 4740/13.A - juris Rn. 45 f. m.w.N.; VG München, U.v. 20.6.2001 - M 21 K 98.50394 - juris Rn. 92 ff.; Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 11. Edition Stand: 15.04.2022, § 3a AsylG Rn. 51; Kluth in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition Stand: 01.01.2022 - § 3a AsylG Rn. 19).

17 1.2.2 Die in Sierra Leone durchgeführten weiblichen Genitalverstümmelungen gehen auch von einem nichtstaatlichen Akteur i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG aus, da die Staatsmacht Sierra Leones weder Willens noch in der Lage ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

18 In Sierra Leone gibt es kein gesetzliches Verbot der weiblichen Zwangsbeschneidung und Genitalverstümmelung (engl. Female Genital Mutilation, fortan: "FGM"). FGM ist in Sierra Leone weder in der Verfassung noch durch einfaches Gesetz unmittelbar verboten (vgl. TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e.V., Schriftsatz vom 20.1.2022 in Beantwortung des Beweisbeschlusses vom 6. Mai 2021 im Verfahren M 30 K 17.44261 (fortan: "TDF, Antwortschreiben"), Nr. 1.1; EASO, COI Query (Q24-2021), FGM/C, Sierra Leone, 13.8.2021, S. 2 f.; US Department of State (USDOS), Sierra Leone 2020 Human Rights Report, 30.3.2021, S. 16 f.). Zwar sieht Section 33 (1) des "Child Rights Act" von 2007 eine Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bei Folter an sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. Bestrafung von Kindern vor (vgl. Auswärtiges Amt in seiner Stellungnahme vom 8. Februar 2022 in Beantwortung des Beweisbeschlusses vom 6. Mai 2021 im Verfahren M 30 K 17.44261 (fortan: "AA, Antwortschreiben"), S. 1; TDF, Antwortschreiben, Nr. 1.1). FGM wird in Sierra Leone aber als wichtige soziale Norm und traditioneller Ritus angesehen, die keine menschenunwürdige oder  menschenrechtsverletzende Praktik darstelle (TDF, Antwortschreiben, Nr. 1.1; vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI 2020 Country Report - Sierra Leone, Gütersloh (fortan "Bertelsmann Stiftung, BTI 2020") S. 22). [...]

20 Eine Veränderung der Gesetzeslage oder des Gesetzesvollzuges lässt sich, auch aufgrund des Einflusses der FGM befürwortenden Geheimgesellschaften (z.B. Bondo) auf den politischen Wettbewerb, nicht absehen; vielmehr ergibt sich aus den der Entscheidung zugrundeliegenden Erkenntnismitteln, dass Politiker - einschließlich der Frau des amtierenden Staatspräsidenten - aus Angst vor der öffentlichen Meinung, insbesondere vor Wahlen, keine FGM-kritischen Positionen einnehmen oder sich sogar aktiv gegen eine Beschränkung von FGM aussprechen, vielmehr zum Teil sogar als "Sponsoren" für Beschneidungen auftreten (vgl. TDF, Antwortschreiben, Nr. 1.1, 2.3 und 4.6; EASO, a.a.O., S. 3; Bertelsmann Stiftung, BTI 2020, S. 11). [...]

24 FGM wird mit Ausnahme der Krio, welche lediglich 5% der Gesamtbevölkerung ausmachen (Juliane Westphal, LIPortal, a.a.O., S. 33) und FGM gänzlich ablehnen, von allen ethnischen Gruppen Sierra Leones, insbesondere den Gruppen der Mende und der Temne, praktiziert (EASO, a.a.O., S. 2; TDF, Antwortschreiben, Nr. 6.1). In Sierra Leone sind - in absoluter Hinsicht - aktuell fast neun von zehn Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren beschnitten (AA, Antwortschreiben, S. 3; UNICEF, Statistical Profile on Female Genital Mutilation/Cutting, Februar 2016 und vom Januar 2019; zur Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bereits bei einer FGM-Rate von 80 bis 90% vgl. HessVGH, U.v. 23.3.2005 - 3 UE 3457/04.A - juris Rn. 41). [...]

25 Zwar herrscht hinsichtlich FGM in Sierra Leone ein Stadt-Land-Gefälle vor. Die FGM-Prävalenz in urbanen Gebieten, in welchen ca. 42-43% der Gesamtbevölkerung leben, sank zuletzt von 80% auf 74,6%, bei einer FGM-Prävalenz von über 90% im ländlichen Raum (vgl. TDR, Antwortschriftsatz, Nr. 6.2; UNICEF, Statistical Profile on Female Genital Mutilation/Cutting, Februar 2016 und Januar 2019; Juliane Westphal, LIPortal, a.a.O., S. 34). Als Faustregel gilt damit weiterhin, dass FGM und dessen Akzeptanz umso wahrscheinlicher ist, je ländlicher, je geringer gebildet und je stärker verwurzelt in der afrikanischen Tradition die betreffende Personen und Personenkreise sind (so bereits HessVGH, a.a.O., juris Rn. 41 unter Berufung auf Institut für Afrika-Kunde, Beantwortung der Anfrage des VG Frankfurt am Main v. 8.3.2002, 10.4.2002, S. 4 Ad 3.). Die in urbanen Gebieten niedrigere FGM-Prävalenz führt aber aufgrund der dennoch beachtlich hohen Quote zur Überzeugung des Gerichts nicht zum Ausschluss einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung in diesen Gebieten.

26 Dem Bundesamt ist zwar zuzustimmen, dass Eltern einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben. Aus den Erkenntnismitteln geht aber hervor, dass diese nicht die alleinige Entscheidungsgewalt hierüber besitzen. Sowohl die Großfamilie als auch das soziale oder traditionelle Umfeld üben ihren Einfluss aus (AA, Antwortschreiben, S. 2; TDF, Antwortschreiben, Nr. 3.3 und 4.4; vgl. Institut für Afrika-Kunde, a.a.O., S. 4 f. Ad. 4 und Ad. 5). Dabei können auch Parlamentarier oder Chiefs die Übernahme von Verantwortung für sich beanspruchen und entscheiden, dass Mädchen beschnitten werden (TDF, Antwortschreiben, Nr. 3.7). Soweit das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme (Antwortschreiben, S. 2) ohne nähere Begründung ausführt, dass FGM gegen den Willen der Eltern minderjähriger Frauen äußerst selten sei, steht dem die Einschätzung von TERRE DES FEMMES (Antwortschreiben, Nr. 3.7) entgegen. [....]

27 Im Rahmen einer Gesamtwürdigung der vorgetragenen Umstände steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass unbeschnittene Mädchen bzw. minderjährige Frauen, wie vorliegend die Klägerin, in Sierra Leone grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von FGM werden. Dies gilt aufgrund der besonders hohen Prävalenz - auch in den urbanen Gebieten -, dem vorherrschenden sozialen Druck sowie der gesellschaftlichen Stellung der Soweis und deren finanziellen Motivations- wie Interessenlage auch unabhängig von der Frage, ob klägerseits eine FGM befürwortende Großfamilie im Herkunftsland noch vorhanden ist oder nicht. Besondere Umstände, die dazu führen würden - ausnahmsweise - die dargelegte beachtliche Wahrscheinlichkeit zu verneinen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Zu den besonderen Umständen, die im Einzelfall die beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung entfallen lassen können, gehören insbesondere: eine besonders herausgehobene wirtschaftliche oder soziale Stellung der Eltern bzw. Sorgeberechtigten oder eine Großfamilie, die FGM ablehnt und daher zusätzlichen Schutz i.S.e. Unabhängigkeit von Hilfeleistungen und Einflussnahmen durch das soziale Umfeld bieten kann. [...]

30 1.2.5.1 Eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG gegenüber der Bedrohungslage von FGM besteht grundsätzlich nicht. Zum einen ist FGM landesweit verbreitet und wird überall im Land praktiziert. Zum anderen lassen sich den Erkenntnismitteln keine konkreten Orte ermitteln, die unmittelbaren Schutz vor FGM bieten würden. [...]

31 1.2.5.2 Hilfsweise, selbst wenn man eine grundsätzliche inländische Fluchtalternative annehmen würde, kann von der Klägerin i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erwartet werden, sich am Ort des internen Schutzes niederzulassen; eine solche Niederlassung ist ihr unzumutbar, da für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen wäre (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 18.2.2021 - 1 C 4/20 - juris; Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 11. Edition Stand: 15.04.2022, § 3e Rn. 40). [...]

34 Die tatsächlichen individuellen Umstände der Klägerin werden es ihr aber nicht ermöglichen, ihren Lebensunterhalt im Rahmen dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone zu sichern. [...]