VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 15.11.2021 - 9 K 2983/18.A - asyl.net: M30738
https://www.asyl.net/rsdb/m30738
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Mutter und minderjähriges Kind aus Somalia:

1. Einer ehemaligen Mitarbeiterin von AMISOM (African Union Mission in Somalia), die von Al-Shabaab gefangengenommen, wegen des Vorwurfs des Geschlechtsverkehrs mit einem Soldaten von AMISOM misshandelt und zum Tode verurteilt wurde, droht bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion HirShabelle keine erneute Verfolgung durch Al-Shabaab. Dafür sprechen stichhaltige Gründe gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU), weil Zivilist*innen in HirShabelle nur noch Verfolgung droht, wenn sie eine besondere strategische Bedeutung für Al-Shabaab haben oder besonders exponiert sind. Sie hat deshalb trotz Vorverfolgung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2. Eine alleinstehende Frau mit Kindern wird in Somalia ohne Familienstrukturen, die sie unterstützen können, nicht in der Lage sein, ein wirtschaftliches Existenzminimum zu erwirtschaften, sodass ihr und ihren Kindern bei einer Rückkehr nach Somalia entgegen Art. 3 EMRK Verelendung droht und deshalb das Bestehen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Al-Shabaab, Flüchtlingsanerkennung, Qualifikationsrichtlinie, Vorverfolgung, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, familiäre Lebensgemeinschaft, Hiran, Hiiran, Hirshabelle, Südsomalia,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Zur Begründung der Asylanträge gab die Klägerin zu 1) im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 10. September 2018 im Wesentlichen an: Sie habe ... mehrere Monate für AMISOM gearbeitet. Dort habe sie einen Mann kennengelernt, geheiratet und von ihm ein Kind, den Kläger zu 2) bekommen. Aufgrund der Schwangerschaft sei sie nicht mehr in der Lage gewesen zu arbeiten, weshalb sie zurück zu ihrer Mutter nach ... gezogen sei. Dort sei sie im September 2017 von Al-Shabaab aufgesucht und als Spionin bezeichnet worden. Außerdem habe ihr Al-Shabaab vorgeworfen, dass sie ihr Kind von einem AMISOM-Soldaten bekommen und außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe. Man habe ihr die Augen verbunden und sie mitgenommen. Sie sei fast sieben Tage an einem Ort festgehalten und geschlagen worden. Al-Shabaab habe von ihr verlangt, Sachen für einen Bombenanschlag bei AMISOM zu transportieren, was sie allerdings abgelehnt habe. Daraufhin habe man sie mit verbundenen Augen zu einem Gericht gebracht, wo sie mündlich zu Tode durch Steinigung verurteilt worden sei, da ihr vorgeworfen worden sei, Geschlechtsverkehr mit anderen Männern gehabt zu haben. Sie sei zu zwei anderen Frauen gebracht worden, um dort auf ihre Hinrichtung zu warten. Sie habe auch gesehen, wie eine andere Frau gesteinigt worden sei. Nach sieben Tagen sei jedoch ein Kampf zwischen Al-Shabaab und AMISOM ausgebrochen, den AMISOM gewonnen habe. Die Soldaten hätten sie mit nach ... genommen, wo sie medizinisch versorgt worden sei. [...]

Die angebliche Verfolgung durch die Al-Shabaab-Miliz könnte bei Wahrunterstellung der Angaben der Klägerin zu 1) zwar an ein asylrelevantes Verfolgungsmerkmal gem. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG anknüpfen, da es der Miliz nach ihren Angaben unter anderen darum gegangen sei, sie dafür zu bestrafen, dass sie für die AMISOM gearbeitet und diese damit unterstützt habe. Insoweit könnte die Miliz ihr gemäß § 3b Abs. 2 AsylG eine anderslautende religiöse oder politische Gesinnung zugeschrieben haben, weil Al-Shabaab Staatsbedienstete und lokale Sicherheitsbehörden als Unheilige und politische Gegner betrachtet. [...]

Unabhängig von der Frage der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin zu 1), sprechen jedoch selbst bei Wahrunterstellung ihrer Angaben stichhaltige Gründe gegen eine (erneute) Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr, was die insoweit für sie streitende Vermutungsregel des Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU widerlegt. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Al-Shabaab-Miliz heutzutage noch ein Interesse daran hätte, sie zu verfolgen bzw. zu töten.

In Hiiran, der Heimatregion der Kläger, stellt sich die Situation derzeit nach den Erkenntnissen des Gerichts wie folgt dar: Bulobarde, Jalalaqsi und Maxaas befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM. Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Im Nordwesten Hiiraans ist al Shabaab nur in geringer Stärke präsent. Vor allem der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist aktuell als sicher anzusehen. Wesentliche Teile von Hiiraan befinden sich hingegen unter Kontrolle von Al-Shabaab - vor allem die Gebiete westlich der Straße Jalalaqsi - Belet Weyne. [...]

Al-Shabaab greift für sie unbedeutende Zivilisten auch nicht (mehr) spezifisch an, sondern konzentriert sich nur noch auf Ziele, die für sie einen strategischen Wert aufweisen, wie bspw. Beamte, hochrangige Politiker, Clanführer (die die Bundesregierung, AMISOM und SNA unterstützen), Mitarbeiter internationaler Organisationen (bspw. der UN), Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, NGO's und die örtlichen Sicherheitsbehörden. [...]

Selbst offizielle Gegner der Miliz werden in diesen Gebieten nur ins Visier genommen, wenn sie aus deren Sicht über sensible Informationen verfügen. [...]

Zivilisten ohne eine solch exponierte Stellung bzw. strategische Bedeutung laufen somit nicht (mehr) Gefahr, von der Miliz gezielt verfolgt zu werden.

Dass die Klägerin zu 1) Merkmale einer solch exponierten Stellung aufweist, ist weder ersichtlich noch dargetan [...]

Die Kläger haben aufgrund der besonderen Umstände des Falles jedoch einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Den Klägern droht weder durch die Al-Shabaab-Miliz noch aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung (siehe dazu die vorausgegangenen Ausführungen), weshalb ein Abschiebungsverbot nach diesem Gesichtspunkt ausscheidet.

Die rechtlichen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse sind in der maßgeblichen Region unter Berücksichtigung der dortigen Lebensverhältnisse und in Ansehung der persönlichen Umstände der Kläger jedoch erfüllt. [...]

Für die Beurteilung, ob solch außerordentliche Umstände vorliegen, ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet. [...]

Dies wird im Fall der Kläger Mogadischu in der Region Banaadir sein. Denn die Abschiebungen nach Zentral- oder Südsomalia enden dort. [...]

Daneben ist auch auf den Herkunfts- bzw. letzten Wohnort abzustellen, nämlich die Hiiran-Region. [...] Auch wenn in den Teilen Süd- und Zentralsomalias Bürgerkrieg herrscht, so steht Mogadischu - als Ankunftsort - unter der beschränkten Kontrolle der somalischen Bundesregierung. Die Hiiran-Region - als Herkunftsort - steht ebenfalls unter der Kontrolle der Regierung und AMISOM. [...]

Somalia gehört zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Periodisch wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia nach Syrien, dem Jemen, dem Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo zum Land mit dem fünftgrößten Bedarf an internationaler Nothilfe weltweit. [...]

Es gibt keinen sozialen Wohnraum, Sozialhilfe oder staatliche Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer. Die erweiterte Familie inklusive des Sub-Clans oder Clans dient jedoch traditionell als soziales Sicherungsnetz und bietet oftmals zumindest einen rudimentären Schutz. [...]

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen Süd-/Zentralsomalias nicht gewährleistet und Hilfsprojekte der UN oder nichtstaatlicher Hilfsorganisationen erreichen in der Regel nicht alle Bedürftigen. [...]

Angesichts der persönlichen Umstände der Kläger kann jedoch in ihren speziellen Fall davon ausgegangen werden, dass eine Rückführung nach Somalia eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.

Die Kläger sind auf ihrer Flucht von dem Kindsvater getrennt worden. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung gab die Klägerin zu 1) an, sie habe im Jahr 2020 erfahren, dass der Kindsvater mittlerweile in Italien lebe. Ein gemeinsamer Familienverbund ist jedoch nicht mehr hergestellt worden, sodass auch wenn die Kernfamilie bereits in Somalia bestanden hat, nicht - auch nicht hypothetisch - davon ausgegangen werden kann, dass die Familie gemeinsam zurückkehren würde. Die Klägerin zu 1), die keine Schulbildung oder Ausbildung genossen hat, war zwar in Somalia in der Lage, ihren Lebensunterhalt zumindest am Existenzminimum zu bestreiten, dies wird ihr bei lebensnaher Betrachtung nun jedoch nicht mehr möglich sein. Anders als vor ihrer Ausreise aus Somalia hat sie nun zwei Kleinkinder zu versorgen und keinen familiären Rückhalt in ihrer Heimatregion mehr. Befragt dazu gab die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung an, ihr Vater sei verstorben und ihre Geschwister von Al-Shabaab mitgenommen worden. Wo diese sich heute aufhielten, wisse sie nicht. Lediglich zu ihrer Mutter bestehe Kontakt, diese sei inzwischen aber auch aus der Heimatregion weggegangen.

Dazu kommt, dass es sich bei der Klägerin zu 1) um eine alleinstehende Frau handelt. Frauen haben in der somalischen Gesellschaftsstruktur nicht dieselbe Position inne wie ein gleichaltriger Mann. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte wie Männer und werden systematisch benachteiligt. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung. Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. [...]