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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - asyl.net: M30783
https://www.asyl.net/rsdb/m30783
Leitsatz:

Zum Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG wegen drohender Verelendung:

1. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf eine Person nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Laut EuGH ist eine Abschiebung wegen drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung entgegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GR-Charta u.A. unzulässig, wenn die betroffene Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach ihrer Abschiebung unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und ihre elementarsten Bedürfnisse deshalb nicht befriedigen kann, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden ("Bett, Brot, Seife") und diese Situation ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde. Die Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen.

2. Für die Erfüllung der genannten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nicht vulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive Arbeit oder Zuwendungen Dritter das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Dazu gehören auch Tätigkeiten in der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft", d.h. irreguläre Arbeitsverhältnisse ohne staatliche Aufsicht.

3. Die Existenzsicherung muss nicht nachhaltig sein, und die Gefahr einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK ist grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung eintritt, dass sie dieser noch zugerechnet werden kann.

4. Etwas anderes gilt bei Überstellungen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union, für die ein gesteigertes Maß an Gewährleistungen besteht, so dass etwa bei Dublin-Überstellungen auch der Zeitraum nach Abschluss eines Asylverfahrens in den Blick zu nehmen ist.

5. Der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Maßstab der Möglichkeit, dauerhaft ein Existenzminimum erwirtschaften zu können, bezog sich auf eine vulnerable Person und ist nicht auf nicht vulnerable Personen übertragbar. Bei vulnerablen Personen gilt deshalb nicht nur ein anderer Maßstab hinsichtlich der Erheblichkeitsschwelle, sondern auch hinsichtlich des zu beachtenden Zeitraums, in dem nach einer Abschiebung Verelendung droht.

6. Kann die betroffene Person Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, droht grundsätzlich keine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung und ist kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn schon zum Zeitpunkt der Entscheidung davon auszugehen ist, dass der betroffenen Person nach Verbrauch der Rückkehrhilfen nach kurzer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit Verelendung droht.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich LS. 2 bzgl. der Tätigkeiten in der sog. Schattenwirtschaft: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879; LS. 4 unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17; C-318/17; C-319/17, C-438/17 - Ibrahim u.a., Magamadov gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 195 f. - asyl.net: M27127; LS. 5 unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 09.02.2021 - 2 BvQ 8/21 (Asylmagazin 3/2021, S. 77 f.) - asyl.net: M29340)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Beurteilungszeitpunkt, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Verelendung, Existenzgrundlage, Existenzminimum, besonders schutzbedürftig, vulnerabel, Rückkehrhilfen, Schattenwirtschaft, Schwarzarbeit, Dublin III-Verordnung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

12 a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]

14 Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. [...]

15 Die sozioökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat haben weder notwendigen noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein [...]. Gleichwohl entspricht es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können. Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen ("very exceptional cases") begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend ("compelling") gegen eine Abschiebung sprechen. [...]

16 In seiner jüngeren Rechtsprechung zum Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 4 GRC stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019: 219], Ibrahim - Rn. 89 ff. und - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre". Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen. [...]

17 Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nicht vulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Beschlüsse vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 - juris Rn. 5 und vom 17. Mai 2006 - 1 B 100.05 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 328 Rn. 11; vgl. in anderem Zusammenhang ferner EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2019 - C-93/18 [ECLI:EU:C:2019:809], Bajratari - Rn. 48; BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 123 Rn. 32). [...]

19 b. Mit Bundesrecht (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) und den o.g. Grundsätzen nicht vereinbar ist dagegen die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs, die Existenzsicherung müsse nachhaltig und es müsse mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sichergestellt sein, dass sich der Rückkehrer innerhalb des mit Rückkehrhilfen überbrückten Zeitraums eine eigene Existenz werde aufbauen können. [...]

21 Die Gefahr muss folglich in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung - in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers - gerechtfertigt erscheint (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 25. März 2021 - 1 Bf 388/19.A - juris Rn. 139; VGH München, Urteil vom 7. Juni 2021 - 13a B 21.30342 - juris Rn. 38; VG Freiburg, Urteil vom 5. März 2021 - A 8 K 3716/17 - juris Rn. 62; VG Köln, Beschluss vom 4. März 2021 - 21 L 153/21.A - juris Rn. 62 ff., 150). Wo die zeitliche Höchstgrenze für einen solchen Zurechnungszusammenhang im Regelfall zu ziehen ist, ist keiner generellen Bestimmung zugänglich. Die Berücksichtigung finanzieller Rückkehrhilfen darf nicht dazu führen, den mit Art. 3 EMRK intendierten Schutz durch eine starre zeitliche Bestimmung seiner Reichweite - und ggf. entsprechend bemessene Rückkehrhilfen - zu beeinträchtigen (ähnlich VG Freiburg, Urteil vom 5. März 2021 - A 8 K 3716/17 - juris Rn. 67 f.).

22 Wenn der Gerichtshof der Europäischen Union darauf abstellt, dass es in Anbetracht des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots in Art. 4 GRC gleichgültig ist, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 87), bezieht sich dies auf die Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union, für den aufgrund der unter anderem mit der Anerkennungs- und Aufnahmerichtlinie übernommenen Verpflichtungen ein deutlich gesteigertes Maß an Gewährleistungen besteht und es - jedenfalls bei Dublin-Rücküberstellungen - um die Dauer des Asylverfahrens geht.

23 Soweit das Bundesverfassungsgericht in einem in einem Eilverfahren ergangenen Kammerbeschluss vom 9. Februar 2021 - 2 BvQ 8/21 - (Asylmagazin 2021, 77) fordert, dass sich die Verwaltungsgerichte bei der Prüfung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots damit auseinandersetzen müssen, ob es dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung möglich sein wird, sich dauerhaft durch Arbeit ein Existenzminimum zu erwirtschaften, folgt daraus für den Fall des Klägers nichts anderes. Denn Beschwerdeführer des erfolgreichen verfassungsgerichtlichen Eilantrags war ein drogenabhängiger Ausländer, für den im Bundesgebiet eine Betreuung u.a. für die Bereiche Vermögens- und Gesundheitsvorsorge angeordnet gewesen war. Es handelte sich also um eine besonders schutzbedürftige, vulnerable Person. Für die Personengruppe der leistungsfähigen erwachsenen, alleinstehenden jungen Männer lassen sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts keine abstrakten Maßstäbe ableiten, die bei der Prüfung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu beachten wären.

24 Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den materiellen Existenzbedingungen für die Niederlassung am Ort des internen Schutzes (§ 3e AsylG) die Begründung eines perspektivisch dauerhaften Aufenthalts erforderlich ist und die Möglichkeit eines nur vorübergehenden Verweilens unter kurzzeitiger Unterbrechung einer fortdauernden Flucht nicht ausreicht (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 - Buchholz 402.251 § 3e AsylG Nr. 1 Rn. 37), ist dieser Maßstab auf die Frage des internen Schutzes und der Zumutbarkeit der dortigen Niederlassung begrenzt, und nicht auf die im Rahmen des Art. 3 EMRK anzustellenden Gefahrenprognose dergestalt übertragbar, dass ohne eine dauerhafte Existenzsicherung im Herkunftsland Abschiebungsschutz zu gewähren wäre.

25 In der Zusammenschau dieser Kriterien ergibt sich, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts nicht schon dann gegeben ist, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein (im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit der Verelendung: OVG Hamburg, Urteil vom 25. März 2021 - 1 Bf 388/19.A - juris Rn. 147; VGH München, Urteil vom 7. Juni 2021 - 13a B 21.30342 - juris Rn. 38). [...]