VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 28.01.2022 - 7 A 169/20 MD - asyl.net: M30799
https://www.asyl.net/rsdb/m30799
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für in Italien "Anerkannte" wegen drohender Obdachlosigkeit und fehlendem Existenzminimum:

1. Eine nicht vulnerable Person, die bereits mehrere Jahre international schutzberechtigt in Italien gelebt hat, wird bei einer Rückkehr auf absehbare Zeit keine Unterkunft finden.

2. Eine gesunde alleinstehende Person, die die italienische Sprache nicht beherrscht, keine spezifische berufliche Qualifikation aufweist und über kein privates Netzwerk verfügt, wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Arbeit finden, die es erlaubt, sich mit den für den Lebensunterhalt unabdingbar notwendigen Mitteln zu versorgen.

3. Es verbietet sich von vornherein, anerkannte Schutzberechtigte auf die Möglichkeit zu verweisen, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums - verbotene - Arbeit in der Schattenwirtschaft ("Schwarzarbeit") aufzunehmen.

(Leitsätze der Redaktion; Tenor der Entscheidung, wonach die Unzulässigkeitsentscheidung trotz drohender Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK nicht aufgehoben wird, entgegen: EuGH, Urteil vom 13.11.2019 - C-540/17; C-541/17 Deutschland gg. Hamed und Omar - Asylmagazin 1-2/2020, S. 35 f. - asyl.net: M27836; im Übrigen sich anschließend an: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Aufnahmeeinrichtung, Schwarzarbeit, Schattenwirtschaft,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.03.2020 - mit Ausnahme von Ziffer 1 und Ziffer 3 S. 4 verpflichtet, festzustellen, dass in der Person des Klägers hinsichtlich des Zielstaates Italien Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. [...]

Die Versagung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 AufenthG mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 13.03.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Aus diesem Grund war der Bescheid in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien. [...]

Voranzustellen ist, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien auf sich selbst gestellt ist. International Schutzberechtigte – wie der Kläger – sind in Italien formell Ein-heimischen gleichgestellt und erhalten daher nach ihrer Rückkehr nach Italien im Regelfall keine besondere Unterstützung. [...]

Unter Berücksichtigung des Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit geht das Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Italien in nächster Zeit keine Unterkunft finden wird. [...]

Ausgehend von diesen Erkenntnissen wird der Kläger zur Überzeugung des Gerichts im Falle seiner Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine Unterkunft bekommen. Dabei wirkt sich entscheidend aus, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Recht mehr hat, in einer Einrichtung des SAI-Systems zu wohnen und dort versorgt zu werden. Ein Anspruch darauf, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien einer solchen Einrichtung zugewiesen wird, besteht nach derzeitiger Erkenntnislage nicht. [...]

Ausgehend von der langen Aufenthaltsdauer des Klägers in Italien ist anzunehmen, dass der Kläger die maximale Dauer für eine Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung bereits erreicht hat. Aber auch wenn der Kläger die maximale Unterbringungsdauer noch nicht erreicht haben sollte, ist mit Blick auf die Schutzgewährung am 12.11.2012 und somit vor über 9 Jahren anzunehmen, dass der Kläger keinen Anspruch mehr auf Aufnahme in eine Zweitaufnahmeeinrichtung hat oder einen solchen Anspruch nach seiner Rückkehr nach Italien durchsetzen könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Kläger aufgrund seiner ausreisebedingten Abwesenheit ein mögliches Recht auf Unterbringung nach den italienischen Gesetzen entzogen worden sein könnte. [...]

Dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine öffentliche Wohnung oder eine Sozialwohnung in Italien erhalten würde, ist ebenso nicht ersichtlich. [...]

Die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft oder Notschlafstelle könnte dem Kläger zwar unter Umständen einen Platz zum Schlafen bieten. In diesem Zusammenhang ist aber ungewiss, inwieweit der Kläger dort tatsächlich einen Schlafplatz erlangen kann, da er sich jeden Tag genauso wie obdachlose italienische Staatsbürger und andere Migrantinnen und Migranten um einen solchen Platz bemühen müsste. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass im Zuge der Pandemie die Kapazitäten in solchen Unterkünften noch geringer geworden sind. Mit der Unterbringung nicht verbunden ist darüber hinaus auch die Versorgung des Klägers mit für das Leben notwendigen Mitteln.

Auch wenn der Kläger zur Vermeidung einer extremen individuellen Notlage auf die Inanspruchnahme von Unterstützungs- und Hilfsleistungen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen zurückgreifen müsste (vgl. dazu ausführlich: BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 3.21 - zitiert nach juris) und diese in Italien in einigen Städten über lediglich wenige Schlafplätze verfügen, so kann der Kläger über solche Organisationen dennoch keine Unterkunft erhalten, in der er über einen längeren Zeitraum wohnen und sich versorgen könnte.[...]

Neben den erheblichen Schwierigkeiten, eine Unterkunft in Italien zu finden, wird der Kläger auch ferner mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit dem für ein Leben notwendigen Güter zu versorgen. [...]

Ausgehend hiervon und unter Berücksichtigung der den Zugang zum Arbeitsmarkt zusätzlich erschwerenden persönlichen Handicaps des Klägers, wie der mangelnden Beherrschung der italienischen Sprache, des Fehlens spezifischer beruflicher Qualifikationen und des für einen Drittstaatsangehörigen in einem anderen Land typischen Fehlens privater Netzwerke, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien keine Arbeit finden würde, die es ihm erlaubte, sich mit den für seinen Lebensunterhalt unabdingbar notwendigen Mitteln zu versorgen. Diese Annahme deckt sich auch mit den bereits vom Kläger erlebten Geschehnissen in Italien, als dieser versuchte, durch Ansammeln von Sachen auf der Straße und deren Weiterverkauf den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Ob der Kläger in Italien eine Beschäftigung im Bereich der sog. Schattenwirtschaft finden könnte, kann offenbleiben. Denn es verbietet sich von vornherein, anerkannte Schutzberechtigte - wie den Kläger - auf die Möglichkeit zu verweisen, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums - verbotene - Schwarzarbeit aufzunehmen.

Der Kläger wird im Falle seiner Rückkehr nach Italien auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte. Anerkannte Schutzberechtigte haben in Italien grundsätzlich Zugang zum sog. Bürgergeld ("reddito di cittadinanza"). Voraussetzung für den Erhalt des Bürgergelds ist aber u. a., dass die antragstellende Person mindestens zehn Jahre in Italien ihren Wohnsitz gehabt haben muss, zwei davon ununterbrochen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien: Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, in Italien, Januar 2020, S. 63 f.; und AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 185). Da der Kläger aber nicht seit mindestens zehn Jahren einen Wohnsitz in Italien hat, ist dieser im Falle seiner Rückkehr nach Italien von der Gewährung eines Bürgergeldes ausgeschlossen. [...]

Fehlt nach dem Voranstehenden (nunmehr) eine Grundlage für die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten ist gemäß § 31 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 AsylG kein Raum mehr für die Androhung der Abschiebung nach Italien gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG sowie die Anordnung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 2 i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG. Daher ist der Bescheid auch insoweit aufzuheben. [...]

Auch die Unterstützung von Hilfsorganisationen versetzt den Kläger in Italien nicht in die Lage, dort seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. [...]