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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 19.07.2022 - 2 BvR 961/22 - asyl.net: M30822
https://www.asyl.net/rsdb/m30822
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung wegen möglicher Verletzung der Sachaufklärungspflicht hinsichtlich Rumäniens und drohender Retraumatisierung durch Abschiebung:

1. Hinsichtlich der Aufnahmebedingungen und der Möglichkeiten medizinischer Versorgung für Geflüchtete in Rumänien drängt sich angesichts der Auswirkungen der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen eine sorgfältige, aktuelle Sachverhaltsermittlung auf. Das bloße Abstellen auf die Situation vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs verletzt möglicherweise den Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.

2. Ergibt sich aus den vorliegenden ärztlichen Berichten, dass aufgrund einer Retraumatisierung im Zuge der Abschiebung selbstschädigende und suizidale Handlungen drohen und diese durch eine anschließende Therapie nicht rechtzeitig abgewendet werden können, legt das eine weitere Sachverhaltsaufklärung nahe. Unterbleibt diese, ist der Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes möglicherweise auch insofern verletzt. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Reisefähigkeit, Rumänien, medizinische Versorgung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Sachaufklärungspflicht,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c S. 1, VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit einer Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - noch - hinreichend substantiiert dargelegt. Er hat nachvollziehbar vorgebracht, dass eine Verletzung der verfassungsrechtlich fundierten Sachaufklärungspflicht durch das Verwaltungsgericht jedenfalls denkbar erscheint. Das Verwaltungsgericht unterstellt - ohne ansatzweise die aktuelle Lage in Rumänien nach Beginn des Krieges in der Ukraine zu berücksichtigen - die Möglichkeit der adäquaten (Weiter-)Behandlung der psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers in Rumänien trotz einer ärztlich attestierten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintretenden Retraumatisierung im Fall der Abschiebung. Dabei hätte sich eine sorgfältige Ermittlung der Auswirkungen der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen auf die Aufnahme und Behandlung anderer Gruppen Geflüchteter in den Aufnahmestaaten - unter anderem in Rumänien - aufgedrängt. Dies könnte eine Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung darstellen. Auch in medizinischer Hinsicht hätte eine weitere Sachverhaltsaufklärung nahegelegen. Denn unterstellt, dem Beschwerdeführer stünde in Rumänien zeitnah ein Therapieplatz zur Verfügung, ergibt sich aus den vorliegenden ärztlichen Berichten nicht, dass die aufgrund einer Retraumatisierung nach dem ärztlichen Bericht drohenden selbstschädigenden und suizidalen Handlungen durch eine Therapie rechtzeitig abgewendet werden können. [...]