VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 19.05.2022 - 13 A 3666/18 - asyl.net: M30832
https://www.asyl.net/rsdb/m30832
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen politischer Verfolgung für Kurden aus der Türkei:

1. Der Kläger kann sich auf die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) berufen, weil er durch die Polizei gefoltert wurde und keine stichhaltigen Gründe gegen die Annahme einer erneuten Verfolgung sprechen.

2. In Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einer Terrororganisation kann in der Türkei nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren gerechnet werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, politische Verfolgung, HDP, PKK, Vorverfolgung, Folter, Polizei
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren in der Türkei drohen, die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute, da er vorverfolgt ausgereist ist. Stichhaltige Gründe, die gegen die Annahme sprechen, dass der Kläger erneut von einer Verfolgung bedroht ist, sind vorliegend nicht ersichtlich.

Der Kläger hat glaubhaft und unter Nennung zahlreicher Details geschildert, wie er vor seiner Ausreise aus der Türkei von Polizisten gefoltert wurde, da diese an Informationen zu einer Person namens ..., die in der Heimatregion des Klägers politisch aktiv gewesen ist und mit der der Kläger in Kontakt stand, gelangen wollten. Gegen den Kläger bestand deswegen der Verdacht, terroristische Gruppierungen unterstützt zu haben und mit diesen in Verbindung zu stehen. [...]

Die dem Kläger drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsschutzrechtlich beachtlich. Denn der Kläger kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen. Die gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren dienen nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i.S.d. § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung.

Von Seiten des Europarates und der Europäischen Union wurden der Türkei in den letzten Jahren regelmäßig Rückschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit attestiert. Die Notstandsdekrete und Gesetzgebungstätigkeit der Regierung im Zuge der Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung im Nachgang des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 haben dazu geführt, dass die Unabhängigkeit der Justiz weiter erheblich eingeschränkt wurde. [...] Seitdem kann in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und Gülen-Bewegung (im offiziellen türkischen Sprachgebrauch "FETÖ") nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden. [...]

Auch wenn das türkische Recht die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren sichert, so sind, anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität, in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet. Insbesondere werden Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK, der KCK oder der Gülen-Bewegung häufig als geheim eingestuft mit der Folge, dass bis zur Anklageerhebung eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen nicht möglich ist (vgl. Lagebericht, S. 15). Hinzu kommen Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte, die wegen PKK- oder "FETÖ"-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen "Terrorismus"-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5. November 2017, S. 14 ff.).

Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einer Terrororganisation - anders als im Rahmen allgemeiner Kriminalität - nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen kann, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist. [...]