EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Beschluss vom 30.06.2022 - C-72/22 PPU M.A. gg. Litauen - asyl.net: M30839
https://www.asyl.net/rsdb/m30839
Leitsatz:

Regelungen Litauens zum Zugang zum Asylverfahren und zur Haft in Sondersituationen sind unionsrechtswidrig:

1. Die Regelung eines Mitgliedstaates, wonach Schutzsuchende bei Kriegsrecht oder Ausnahmezustand oder aufgrund einer Notlage wegen eines sog. massiven Zustroms an Drittstaatsangehörigen de facto keinen Zugang zum Verfahren zur Prüfung internationalen Schutzes haben, verstößt gegen Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU; AsylVerf-RL).

2. Die Regelung eines Mitgliedstaates, wonach Schutzsuchende bei Kriegsrecht oder Ausnahmezustand oder aufgrund einer Notlage wegen eines sog. massiven Zustroms an Drittstaatsangehörigen in Haft genommen werden können, nur weil sie sich illegal im Mitgliedstaat aufhalten, verstößt gegen Art. 8 Abs. 2, 3 AsylVerf-RL.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unerlaubte Einreise, Asylantrag, Litauen, Ausnahmezustand, massiver Zustrom, Kriegsrecht, Zugang zum Verfahren, Haftgründe, Haft, Asylverfahrensrichtlinie,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 6, RL 2013/32/EU Art. 7 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 8 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

[...]

16 Mit dem Beschluss Nr. 517 ("Erklärung einer Notlage auf nationaler Ebene und Benennung des Leiters der Operationen im Zusammenhang mit der Notlage auf nationaler Ebene") vom 2. Juli 2021 (TAR, 2021, Nr. 2021-15235, im Folgenden: Beschluss Nr. 517/21) erklärte die Regierung der Republik Litauen eine Notlage für das gesamte Hoheitsgebiet. Am 10. November 2021 wurde mit der Begründung, dass ein massiver Zustrom von Migranten insbesondere aus Weißrussland bewältigt werden müsse, in einem Teil dieses Gebiets der Ausnahmezustand verhängt.

17 Am 17. November 2021 wurde M.A., ein Drittstaatsangehöriger, mit einer Gruppe aus Litauen kommender Personen in Polen festgenommen, weil er weder Reisedokumente noch das für den Aufenthalt indiesem Mitgliedstaat und der Union erforderliche Visum besaß. Am 19. November 2021 wurde M.A. im litauischen Hoheitsgebiet Bediensteten des VSAT übergeben. Am selben Tag nahm das VSAT M.A. für eineHöchstdauer von 48 Stunden in Haft und beantragte beim Alytaus apylinkės teismas (Bezirksgericht Alytus, Litauen), seine Inhaftierung für die Dauer von bis zu sechs Monaten anzuordnen. [...]

23 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass bei einer durch den massiven Zustrom von Migranten verursachten Notlage, wie sie mit dem Beschluss Nr. 517/21 erklärt worden sei, ein Asylantrag nur zulässig sei, wenn er die Voraussetzungen von Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes erfülle. Außerdem könne bei einer solchen Notlage ein illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereister Ausländer in Haft genommen werden (Art. 14017 des Ausländergesetzes). [...]

31 Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes
Verwaltungsgericht von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen wie den im vorliegenden Fall anwendbaren entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern einem Ausländer, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und sich dort illegal aufhält, grundsätzlich nicht gestattet wird, internationalen Schutz zu beantragen?

2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er in das Hoheitsgebiet der Republik Litauen eingereist ist, indem er die litauische Staatsgrenze illegal überschritten hat?

70 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch bedeutet dies nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären. Der AEU-Vertrag sieht nämlich, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in ganz bestimmten Fällen vor. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem AEU-Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahme vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des AEU-Vertrags anerkannt, könnte dies die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen [...].

71 Außerdem ist die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme eng auszulegen. Daraus folgt, dass er nicht als Ermächtigung der Mitgliedstaaten verstanden werden darf, allein unter Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C-808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 215).

72 Unter diesen Umständen und in Anbetracht der oben in den Rn. 70 und 71 angeführten Rechtsprechung kann Art. 72 AEUV nicht herangezogen werden, um unter allgemeiner Geltendmachung von Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit durch den massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen eine Bestimmung wie Art. 14012 des Ausländergesetzes zu rechtfertigen, die dazu führt, dass Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, de facto das Recht genommen wird, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. [...]

83 In Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 werden nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt, wobei jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis entspricht und autonomen Charakter hat. [...]

84 Der Umstand, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, gehört aber nicht zu den Gründen, die nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 die Inhaftnahme des Antragstellers rechtfertigen können. Folglich darf ein Drittstaatsangehöriger nicht allein aus diesem Grund in Haft genommen werden. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern illegal aufhältige Drittstaatsangehörige de facto keine Möglichkeit haben, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erlangen.

2. Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält. [...]