OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 27.07.2022 - 3 B 179/22 - asyl.net: M30852
https://www.asyl.net/rsdb/m30852
Leitsatz:

Verpflichtung zur Änderung einer Wohnsitzauflage im einstweiligen Rechtsschutz:

1. Es besteht ein Anspruch auf Änderung einer Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d S. 3 AufenthG, wenn ein Elternteil den Zuzug zu Kleinkindern begehrt, um mit diesen und dem anderen Elternteil in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenzuleben. Das eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Änderung der Wohnsitzauflage ist aufgrund des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG auf Null reduziert. Denn die Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung sind besonders schwerwiegend, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann. 

2. Zur Änderung einer Wohnsitzauflage bedarf es nicht der Zustimmung des Landes, in das der Zuzug begehrt wird oder der zukünftig zuständigen Ausländerbehörde.

3. Ein Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 S. 2 VwGO besteht, weil ein weiteres Warten auf eine behördliche Entscheidung nicht zumutbar ist. Insbesondere darf ein Elternteil nicht darauf verwiesen werden, dass der bisherige Wohnsitz bis zu einer endgültigen Entscheidung über den Antrag auf Änderung der Wohnsitzauflage ohne Erlaubnis vorübergehend verlassen werden darf.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Duldung, deutsches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Kleinkind, Eltern-Kind-Verhältnis, Vorwegnahme der Hauptsache, einstweilige Anordnung, vorläufiger Rechtsschutz, Kindeswohl,
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1d S. 3, AufenthG § 61 Abs. 1d, GG Art. 6 Abs. 1, VwGO § 123,
Auszüge:

[...]

7 Der Antrag ist zulässig, auch wenn mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen ist, dass damit die Hauptsache vorweggenommen wird. Denn die vom Antragsteller begehrte Verpflichtung des Antragsgegners ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes notwendig, da die sonst zu erwartenden Nachteile für ihn unzumutbar wären und ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. [...]

9 Gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG kann die Ausländerbehörde die bisher verfügte Wohnsitzauflage auf Antrag des Ausländers ändern; hierbei sind die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen für die vom Antragsteller begehrte Änderung der Wohnsitzauflage dürften hier mit großer Wahrscheinlichkeit vorliegen. [...]

10 Der Antragsteller ist nachgewiesenermaßen Vater zweier deutscher Kinder im Kleinkindalter, die zusammen mit ihrer Mutter in Berlin leben. Der Antragsteller hat, ohne dass dies vom Antragsgegner bestritten worden ist, glaubhaft gemacht, dass er so viel Zeit wie möglich bei seiner Partnerin und seinen Kindern verbringt, gleichberechtigt die elterliche Sorge über die beiden Kinder ausübt und Erziehungsleistungen in erheblichem Umfang erbringt. Damit ist die Führung einer familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Partnerin und seinen beiden Kindern glaubhaft gemacht. [...]

Das dem Antragsgegner gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG zustehende Ermessen ist infolge des Gewichts der von Art. 6 GG geschützten familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinen minderjährigen Kindern auf Null reduziert. Das öffentliche Interesse an der gerechten Verteilung der Sozialkosten (vgl. hierzu Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, Loseblattsammlung Stand: Oktober 2021, § 61 Rn. 42) muss dabei zurückstehen. Denn die familiären Bindungen des Antragstellers wiegen deshalb besonders schwer, weil hier der Schutz der familiären Lebensgemeinschaft zwischen ihm und seinen Kleinkindern in Rede steht. Die Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung haben insbesondere dann ein hohes, gegen eine Trennung sprechendes Gewicht, wenn wie hier ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 9. Juni 2015 - 3 B 152/15 -, juris Rn. 5 m. w. N.; vgl. OVG LSA, Beschl. v. 22. Januar 2015 - 2 O 1/15 -, juris Rn. 9). [...]

12 Der vom Antragsgegner bislang vergeblich eingeholten Zustimmung des Landes Berlin bedarf es nicht. Die begehrte Änderung der Wohnsitzauflage steht gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG dem Antragsgegner als derzeit zuständiger Ausländerbehörde zu; eine Zustimmung des aufnehmenden Landes ist mangels gesetzlicher Grundlage nicht erforderlich (OVG Bremen, Beschl. v. 7. Juli 2022 - 2 B 104/22 -, juris Rn. 20 ff. m. w. N.; BayVGH, Beschl. v. 15. September 2020 - 10 ZB 20.1593 -, juris Rn. 4 m. w. N.). Daher musste die Entscheidung des Landes Berlin nicht abgewartet werden. Im Übrigen folgt aus dem Verweis des Antragsgegners auf die fehlende Zustimmung Berlins, dass er sich hierdurch in seiner Entscheidung gebunden sah, so dass für die Ausübung von Ermessen kein Raum blieb. Eine irgendwie geartete Ausübung von Ermessen i. S. v. § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG ist hierin nicht zu sehen.

13 Auch ist ein Anordnungsgrund zu bejahen, da angesichts des bisher einjährigen Antragsverfahrens ein weiteres Zuwarten für die Familie des Antragstellers nicht zumutbar ist. Insbesondere kann der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, dass er gemäß § 61 Abs. 1d Satz 4 AufenthG den durch die Wohnsitzauflage festgelegten Ort ohne Erlaubnis vorübergehend verlassen kann. [...]