VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 29.07.2022 - 13 K 2779/21.A - asyl.net: M30854
https://www.asyl.net/rsdb/m30854
Leitsatz:

Pflicht zum Selbsteintritt bei Anspruch auf Familienschutz:

Liegen die Voraussetzungen des Familienschutzes nach § 26 AsylG aller Voraussicht nach vor, ist das BAMF im Dublin-Verfahren dazu verpflichtet, gemäß Art. 17 Dublin-III-VO den Selbsteintritt zu erklären, auch wenn nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin-III-VO ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 17.11.2020 - 1 C 8.19 - asyl.net: M29341)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienschutz, Dublin-III-Verordnung, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Ehegattennachzug, Kindernachzug,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 26, GG Art. 6 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 17, VO 604/2013 Art. 9, VO 604/2013 Art. 10, VO 604/2013 Art. 11,
Auszüge:

[...]

A. Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg. [...]

1. Dies gilt zunächst für die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig in Ziffer 1 des jeweiligen Bescheides. Diese findet keine Rechtsgrundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG. [...]

Zwar ist Deutschland nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien an sich nicht für die Prüfung der Anträge zuständig (nachfolgend a.). Die Beklagte ist jedoch verpflichtet, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben (nachfolgend b.). [...]

Für die Kläger zu 1. bis 4. ergibt sich die Pflicht zum Selbsteintritt daraus, dass sie die materiellen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienasyl bzw. Familienschutz gemäß § 26 Abs. 1 bzw. Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG erfüllen dürften und dem Rechnung getragen werden muss (nachfolgend aa.), für den Kläger zu 5. aus dem grundrechtlichen Schutz des Familienlebens (nachfolgend bb.). [...]

(2) Ist damit ein Anspruch auf Familienschutz aller Voraussicht nach zu bejahen, folgt daraus auch ein Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts.

Für das Verhältnis des Familienasyls zu § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes hindert, weil § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG keine Anwendung finde (BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 - 1 C 8/19 -, BVerwGE 170, 326, juris, Rn. 17).

Die historisch-genetische Auslegung des § 26 AsylG weise darauf, dass den Angehörigen der (Klein-)Familie des Schutzberechtigten die Herstellung der Familieneinheit auf der Grundlage eines einheitlichen Schutzstatus ermöglicht werden sollte, und nicht erkennen lasse, dass insoweit zwischen Angehörigen, die schutzlos sind, und solchen, denen bereits in einem anderen Staat internationaler Schutz zuerkannt wurde, habe differenziert werden sollen. [...]

Allerdings wird § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO - anders als nach der vorgenannten Rechtsprechung § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - nicht von § 26 AsylG verdrängt. Denn zur Anwendung der Dublin III-VO ist die Bundesrepublik völker- bzw. europarechtlich verpflichtet. Indes lässt die Dublin III-VO mit der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts den notwendigen Raum, um eine Zuständigkeit der Bundesrepublik zu begründen und eine Anwendung der Vorschriften über das Familienasyl bzw. den Familienschutz zu ermöglichen. [...]