VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 31.05.2022 - 8 K 144/18 - asyl.net: M30856
https://www.asyl.net/rsdb/m30856
Leitsatz:

Familienschutz zwischen zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährigen Geschwistern:

1. Entscheidend für die familiäre Gemeinschaft minderjähriger Geschwister gemäß § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG ist, dass diese in dem Staat bestand, in dem die stammberechtigte Person verfolgt wurde oder von einem ernsthaften Schaden bedroht war. Der Umstand, dass die Geschwister den Staat zu unterschiedlichen Zeitpunkten verließen oder auf der Flucht getrennt wurden, ist unschädlich. Ebenso unschädlich ist es, wenn die Geschwister vor ihrer Flucht verfolgungsbedingt getrennt untergebracht werden mussten.

2. Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die stammberechtigte Person minderjährig gewesen sein muss, ist der Zeitpunkt der Asylantragstellung der Angehörigen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 25.11.2021 - 1 C 4.21 (Asylmagazin 3/2022, S. 90 ff.) - asyl.net: M30314; siehe auch: VG Frankfurt a.M., Urteil vom 06.12.2022 - 5 K 1175/20.F.A - asyl.net: M31223; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 01.06.2021 - 13 A 471/21 - asyl.net: M29805)

Schlagwörter: Familienschutz, minderjährig, Geschwister, Schwester, Bruder, familiäre Bindung, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

b) Die Familie zwischen dem Kläger und seinem Bruder hat entsprechend § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG bereits im Herkunftsland bestanden. Für das Bestehen einer Familie ist grundsätzlich entscheidend, dass sich die Familienmitglieder in einer gegenseitigen Einstands- und Fürsorgepflicht zueinander befinden. Wobei für die geschwisterliche Lebensgemeinschaft minderjähriger Kinder regelmäßig nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese eine gegenseitige Einstandspflicht miteinander verbindet, welche von der gleichen Intensität ist wie bei Eheleuten. Vielmehr steht für das Verhältnis der Geschwister zueinander nicht die leibliche Verwandtschaft (vgl. förmliche Ehe), sondern der Schutz des Familienverbandes als solcher im Vordergrund. So lässt sich auch nur das weite Verständnis des Begriffs der "Familie" verstehen, welcher abgesehen von den leiblichen Geschwistern auch Adoptiv- und Stiefgeschwister mit umfasst. So kommt es gemäß dem Verweis in § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG auch nicht auf die Personensorge zwischen minderjährigen Geschwistern an, welcher gerade nicht auf § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AsylG verweist. [...]

An dem Bestehen der Familiengemeinschaft im Herkunftsland ändert auch die kurzzeitige Trennung der Familie nach der Flucht des Bruders nichts. Für die Beurteilung dafür, ob die Familie im Herkunftsland bestanden hat, ist der Zeitpunkt vor der Flucht entscheidend. Es kann nicht darauf ankommen, dass die Geschwister zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Land verlassen haben. Vielmehr ist der Sinn und Zweck der Vorschrift darin zu sehen, dass enge familiäre Bindungen erhalten bleiben sollen, um die soziale Entwicklung der minderjährigen Personen zu fördern, wenn die Fluchtursachen der Familienmitglieder an ein gemeinsames Schicksal geknüpft sind und ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Fluchtantritt besteht (BVerwG, U. v 25.11.2021 - 1 C 4.21 -, juris). Führt das die Flucht verursachende Ereignis dazu, dass Familienmitglieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Land verlassen, wie im vorliegenden Fall, kann es auf die Zeit nach der Flucht des Bruders nicht mehr ankommen. Gem. § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG ist entscheidend, dass die familiäre Bindung in dem Staat bestanden hat, in dem der Stammberechtigte verfolgt wurde. Hierfür muss nicht einmal zwingend eine häusliche Gemeinschaft bestanden haben. Dem folgend ist die räumliche Trennung der Geschwister während ihrer Flucht unschädlich. Entscheidend ist vielmehr, dass eine Familiengemeinschaft vor der Flucht bestanden hat, wobei eine Betrachtung der Gesamtumstände vorzunehmen ist. Daraus muss sich ergeben, dass eine familiäre Bindung zwischen den Familienangehörigen bestanden hat, auch wenn das Kind oder Geschwister verfolgungsbedingt getrennt von dem Rest der Familie untergebracht werden musste [...].

c) Der Kläger ist auch bereits vor der Anerkennung seines Bruders als subsidiär Schutzberechtigter (17.07.2020) am 2016 in die Bundesrepublik Deutschland als Minderjähriger eingereist. Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem der Stammberechtigte minderjährig gewesen sein muss, ist ... der Zeitpunkt der Asylantragstellung seiner Angehörigen (BVerwG, U. v 25.11.2021 - 1 C 4.21 -, juris). Der Zeitpunkt der Asylantragstellung ist im Kontext des § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG jener, an dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Kenntnis vom Asylgesuch des Schutzsuchenden erlangt hat (vgl. VG Stuttgart, U. v. 23.05.2018 - A 1 K 17/17 -, juris). Der Bruder des Klägers (geb. am … 1999) war hier unzweifelhaft minderjährig im Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers am 31.10.2016. [...]