VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 18.08.2022 - 5 K 1804/22 - asyl.net: M30864
https://www.asyl.net/rsdb/m30864
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis für aus der Ukraine geflohene nigerianische Staatsangehörige:

1. Kommen angesichts des geschilderten Lebenssachverhalts und des Inhalts des Antrags neben einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG weitere Aufenthaltserlaubnisse (hier: Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Ausbildung/Erwerbstätigkeit, Aufenthaltserlaubnis wegen Bestehens eines Abschiebungsverbots) in Betracht, ist der Antrag auf Aufenthaltserlaubnis auch diesbezüglich zu bescheiden. Hinsichtlich des Bestehens von Abschiebungsverboten dürfte gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen sein.

2. In Frage steht, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen des § 24 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Frage zu beteiligen ist, ob die Antragstellerin sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ukraine, Drittstaatsangehörige, Nigeria, Auslegung, Aufenthaltserlaubnis, Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Studium, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Massenzustromsrichtlinie, vorübergehender Schutz,
Normen: AufenthG § 24 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 72 Abs. 2, AufenthG § 16 S. 1, AufenthG § 18a, AufenthG § 18b Abs. 1, AufenthG § 19d Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten der Antragstellerin aus. Denn es sprechen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine ausreichende Prüfung der einschlägigen Tatbestandsvoraussetzungen zugrunde liegt und dass diese deshalb verfrüht ergangen und derzeit rechtswidrig ist.

Es kann dahinstehen, ob der Antragstellerin ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG i.V.m. dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 04. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzugstroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (im Folgenden: Durchführungsbeschluss) zusteht. Die Nummer 1 des Bescheids vom 14.07.2022 dürfte voraussichtlich bereits deshalb rechtswidrig sein, weil der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels von der Antragsgegnerin noch nicht vollständig beschieden wurde.

Der Gegenstand des auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gerichteten Verfahrens wird durch die Aufenthaltszwecke, aus denen der/die Ausländer/-in seinen bzw. ihren Anspruch herleitet, bestimmt und begrenzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.09.2007 - 1 C 43.06 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.09.2021 - 11 S 1966/19 -, juris; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04.08.2021 - 4 LA 102/20 -, juris). Legt der/die Ausländer/-in ohne weitere Eingrenzung einen Lebenssachverhalt dar, der einem oder mehreren in den Abschnitten 3 bis 8 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes genannten Aufenthaltszwecken zuzuordnen ist, ist sein/ihr Antrag nach jeder bei Würdigung des vorgetragenen Lebenssachverhalts in Betracht kommenden Vorschrift des betreffenden Abschnitts zu beurteilen. [...]

Dies zugrunde gelegt dürfte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hier bislang nur teilweise beschieden haben, denn die Antragstellerin hat ausdrücklich und eindeutig (durch Ankreuzen der entsprechenden Formularfelder) Ausbildung und Erwerbstätigkeit als Zwecke des Aufenthalts angegeben und vorgetragen, ihre medizinische Ausbildung in Deutschland fortführen und abschließen sowie hier als Ärztin arbeiten zu wollen. Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner den Antrag auf Grundlage des Sachvortrags der Antragstellerin zu ihrem Aufenthalt in der Ukraine in ihrem wohlverstandenen Interesse (weiter) dahingehend auslegt, dass sich ihre Aufenthaltszwecke (auch) auf völkerrechtliche, humanitäre und politische Gründe (Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes) beziehen, gleichwohl durfte er sich im Rahmen seiner Prüfung nicht allein auf § 24 AufenthG beschränken. [...]

Dem streitgegenständlichen Bescheid lässt sich nicht entnehmen, dass der Antragsgegner auch andere, auf Grundlage des Sachvortrags der Antragstellerin möglicherweise in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlagen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes - z.B. § 25 Abs. 3 AufenthG - formal ordnungsgemäß (unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, vgl. § 72 Abs. 2 AufenthG) geprüft hätte. Auch die Anhörung der Antragstellerin war explizit auf das Prüfprogramm nach § 24 AufenthG beschränkt. Zudem dürfte in Frage stehen, ob es auch im Rahmen des § 24 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses einer Beteiligung des Bundesamts - als zentrale sachverständige Stelle hinsichtlich der Beurteilung der Verhältnisse im betreffenden Zielstaat (hierzu: Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 72 Rn. 7, 10) - im Hinblick auf die Frage bedurfte, ob die Antragstellerin sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren kann (bejahend: Schuster/Voigt, Asylmagazin 2022, 109), wenngleich es hierauf letztlich nicht ankommt. Da der Antragsgegner jedenfalls nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Abschnitt 5 abgelehnt hat, hat er jedenfalls bislang nicht geprüft und darüber entschieden, ob der Antragstellerin - wie ausdrücklich beantragt - eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Ausbildung (Abschnitt 3 des Aufenthaltsgesetzes) oder zum Zweck der Erwerbstätigkeit (Abschnitt 4) zu erteilen wäre. Denn für nicht-ukrainische Staatsangehörige kann im Einzelfall auch eine Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen in Betracht kommen (vgl. Schuster/Voigt, Asylmagazin 2022, 109; Dörig, jM 2022, 249). [...]

Die Kammer hat zudem eigenständige rechtliche Bedenken hinsichtlich der angeordneten Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bekanntgabe der Entscheidung am 16.07.2022. Denn die Antragstellerin darf sich gem. §§ 2 Abs. 1, 4 Abs. 2 UkraineAufenthÜV in der aktuellen Fassung vom 26.04.2022 bis zum 31.08.2022 - mithin über einen Zeitraum von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des streitigen Bescheides hinaus - ohne Aufenthaltstitel legal in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und ist jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausreisepflichtig. Die Ausreisefrist darf jedoch nicht in der Weise festgesetzt werden, dass sie - wie hier - zu einem Zeitpunkt schon beginnt, in dem die Ausreisepflicht noch nicht besteht und vollziehbar ist (vgl. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 59 AufenthG, Rn. 17; Welte, InfAuslR 2022, 218, 221). [...]