VG Halle

Merkliste
Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 06.05.2022 - 1 A 146/20 HAL - asyl.net: M30878
https://www.asyl.net/rsdb/m30878
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine kurdische Familie aus dem Irak:

1. Die gesetzliche Wendung "ärztliche Bescheinigung" in § 60a Abs. 2c AufenthG ist erweiternd auszulegen und kann nicht nur von psychologischen Psychotherapeut*innen, sondern auch von Diplom-Psycholog*innen erstellt werden, jedenfalls wenn diese in spezialisierten Einrichtungen (hier: psychosoziales Zentrum für Migrant*innen) arbeiten und insoweit von einer nachhaltigen beruflichen Tätigkeit ausgegangen werden kann. Aber auch in einer Zusammenschau der vorliegenden ärztlichen und psychologischen Begutachtungen liegt eine ausreichend gesicherte ärztliche Diagnose vor.

2. Psychische Erkrankungen können im Irak zwar grundsätzlich behandelt werden, im Hinblick auf die persönlichen Umstände der Betroffenen und insbesondere ihrer Erkrankung (mittelgradige depressive Episode und PTBS) und der schlechten Versorgung mit qualifizierten Behandler*innen bestehen jedoch erhebliche Zweifel, dass die notwendige medizinische Behandlung zeitnah zur Verfügung steht

3. Für die gesamte Familie (mit zwei minderjährigen Kindern) ist die Sicherstellung des Existenzminimums im Irak nicht möglich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Autonome Region Kurdistan, Binnenflüchtlinge, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, Abschiebungsverbot, Kurden, Krankheit, Existenzgrundlage, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klägerin zu 2. hat allerdings einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Aus den von der Klägerin zu 2. vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen vom ... 2020 und ... 2020 sowie den psychologischen Stellungnahmen vom 04. Dezember 2020 und 04. Mai 2022 ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass sie an einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10: F 32.1) und an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) leidet. Die Stellungnahmen der Diplom-Psychologen vom ... 2020 und ... 2022 sind vorliegend nicht (von vornherein) außer Betracht zu lassen, weil sie "nur" von einem Diplom-Psychologen und somit nicht von einem Arzt stammen. Denn die gesetzliche Wendung "ärztliche Bescheinigung" ist erweiternd auszulegen. Das gilt nicht nur für psychologische Psychotherapeuten, sondern jedenfalls auch dann für Diplom-Psychologen, wenn diese zumindest in einschlägigen Einrichtungen – wie hier im psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten – arbeiten und insoweit von einer nachhaltigen beruflichen Tätigkeit ausgegangen werden kann, die allgemein eine Qualitätserwartung, welche der Gesetzgeber mit der Regelung sichern wollte, rechtfertigt (vgl. VG München, Urteil vom 4. Mai 2020 – 19 K 16. 32801 –, juris Rn. 28). Aber auch wenn dem nicht gefolgt werden sollte, liegt in der Zusammenschau der ärztlichen und psychologischen Begutachtungen eine ausreichend gesicherte ärztliche Diagnose vor. Das Ergebnis ist nachvollziehbar dargelegt, die Ärzte und Psychologen haben sich widerspruchsfrei geäußert. Die Diagnose beruht neben einer ärztlichen Anamnese und einem psychopathologischen Befund auf einer intensiven persönlichen psychotherapeutischen Behandlung der Klägerin über einen Zeitraum von mehr als 24 Monaten mit 44 Terminen. In den Befundberichten wird zunächst die Vorgeschichte dargestellt. Anschließend erstellten die Gutachter nach der berichteten und erfragten Symptomatik einen psychischen Befund und eine beobachtete Symptomatik. Zusammenfassend wird dann die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS – ICD-10 F43.1) und einer depressiven Störung mittlerer Episode (ICD-10 F32.1) gestellt. Die Diagnose einer PTBS ergibt sich aus der im Einzelnen dargestellten Symptomatik. Die Bescheinigungen geben Auskunft über die Schwere der Erkrankung, die konkreten Symptome und den Behandlungsverlauf. Die Ärztin und der Psychologe haben dem Gericht gegenüber auch dargelegt, wie sie die Exploration der Klägerin zu 2. vorgenommen haben. Die konkret an die Klägerin gestellten Fragen und deren Antworten müssen entgegen der Ansicht der Beklagten in der ärztlichen Bescheinigung nicht wiedergegeben werden. Das traumaauslösende Ereignis wurde benannt. Die Ausführungen der Klägerin zu 2. in ihren gutachterlichen Befragungen sind auch glaubhaft, ein Widerspruch zu ihren Äußerungen vor dem Bundesamt ist nicht erkennbar. [...]

Im Ergebnis ist nach der Fachärztin ... aufgrund der Schwere und der Komorbidität der vorliegenden psychischen Erkrankungen eine langfristige kombinierte psychiatrische / medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung erforderlich. Die regelmäßig psychotherapeutischen Einzelgespräche finden im psychosozialen Zentrum Halle statt. Aus fachärztlicher Sicht besteht durch eine Abschiebung oder der damit verbundenen Zwangsmaßnahme durchaus die Gefahr einer wesentlichen oder lebensbedrohlichen Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes. Schon in der Vergangenheit habe die Klägerin zu 2. suizidale Impulse gezeigt und von lebensmüden Gedanken berichtet. Impulsive Handlungen der Klägerin zu 2. seien nicht auszuschließen.

Grundsätzlich können psychische Erkrankungen im Irak zwar behandelt werden, es bestehen jedoch aufgrund der schlechten Versorgung mit qualifizierten Psychiatern und Psychologen Zweifel, ob die Klägerin zu 2. ausreichend sicheren und schnellen Zugang zu einer Behandlung hätte. Die medizinische Versorgungssituation im Irak ist angespannt. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Im Sommer 2021 kam es aufgrund von Missmanagement zu zwei Großbränden in Krankenhäusern mit insgesamt 175 Toten. Die große Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Die staatliche medizinische Versorgung in der Region Kurdistan-Irak ist kostenlos bzw. sehr kostengünstig, allerdings qualitativ schlecht und mit langen Wartezeiten verbunden. Private Krankenhäuser auf hohem medizinischem Niveau sind kostspielig und nur für die obere Mittelschicht erschwinglich (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Oktober 2021, S. 25).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation IRAK, Behandlung einer Anpassungsstörung; Psychiatrie, Psychologie, 18.08.2020) berichtet, dass alle relevanten psychologischen und psychiatrischen Behandlungen in Bagdad verfügbar seien. Im Irak habe jeder Bürger nach einer ersten Begutachtung automatisch Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, auch Personen mit psychischen Erkrankungen. Das staatliche Gesundheitssystem übernehme die Kosten für Patienten in öffentlichen Krankenhäusern vollständig. Für Behandlungen in privaten Einrichtungen gebe es keine Rückerstattung. Laut einer Kontaktperson von MedCOI seien in öffentlichen Krankenhäusern jedoch "Anerkennungszahlungen" üblich und zu entrichten. Diese Gebühren beliefen sich auf 3.000 Irakische Dinar (EUR 2,11) für die ambulante Behandlung durch einen Psychiater und auf 5.000 Irakische Dinar (EUR 3,52]) für die stationäre Behandlung durch einen Psychiater, einschließlich der Krankenhausaufnahmegebühr. Hinsichtlich der Behandlung von Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung benennt ACCORD unter Berufung auf das UK Home Office eine Reihe von Einrichtungen, die die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen im Irak anbieten, und die sich sämtlich in Bagdad bzw. im nordirakischen Erbil befinden. Die allgemeine psychische Gesundheitsversorgung sei jedoch in den Provinzen, die unter dem IS-Konflikt gelitten hätten, sowie in Al-Anbar, Diyala und einigen südlichen Provinzen als mangelhaft zu bewerten. Eine Behandlung sei in Bagdad oder einer anderen Großstadt zu erhalten, wenn man über die notwendigen finanziellen Mittel verfüge. Es gebe keine Hindernisse als solche für den Zugang, aber das System sei schwach. Laut Jahresstatistik 2019 des irakischen Gesundheitsministeriums gebe es in der Provinz Basra 0,2 Psychiater je 100.000 Einwohner. Unter Berufung auf FIS berichtet ACCORD weiter, dass die schlechte Qualität, der große Mangel an psychiatrischen Fachkräften und die schlechte Zugänglichkeit die Probleme der psychischen Gesundheitsversorgung seien. Nichtregierungsorganisationen würden den Mangel an öffentlichen Dienstleistungen in der Versorgung im Bereich psychische Gesundheit zu einem gewissen Grad abdecken. Ebenso berichte die WHO von einem gravierenden Mangel an Psychiatern und zitiere einen Artikel der New York Times vom Oktober 2019, in dem die psychische Gesundheitsversorgung im Irak als "nahezu nicht existent" bezeichnet werde. Hingegen floriere der Privatsektor im Bereich der psychischen Gesundheit und verfüge über qualifizierte Ärzte. Die vom privaten Sektor angebotenen Gesundheitsdienstleistungen seien teurer als die im öffentlichen Sektor. Psychopharmaka seien grundsätzlich erhältlich (ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zum Irak: Behandlung von Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung sowie rezidivierender depressiver Störung in Basra und Verfügbarkeit bestimmter Medikamente oder deren Wirkstoffe, 02.04.2021). [...]

Hiernach droht den Klägern im Irak eine unangemessene und unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK. Es ist nicht erkennbar, dass den Klägern in ihrem Herkunftsgebiet ihren existenziellen Lebensunterhalt sichern, Obdach finden oder Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erlangen könnten. In ihrer Heimatregion Shingal hat der IS unter anderem gezielt Brunnen und andere Bewässerungssysteme sabotiert, fruchtbares Ackerland in Brand gesteckt, Obstbäume entwurzelt oder zerstört, Stromgeneratoren gestohlen und Wohngebäude unbewohnbar gemacht. Insbesondere die Zerstörung der Brunnensysteme hat weitreichende Folgen für die ökologische Umwelt der Region. Weitflächiges Absterben von Bäumen, Ackerflächen, der Verlust ganzer Ernten sowie des Viehbestandes sind die Folgen (vgl. Amnesty International, Dead land, Islamic State´s deliberate destruction of Iraq´s farmland, 13. Dezember 2018). Die vom IS befreiten Gebiete sind immer noch durch improvisierte Sprengfallen oder nicht explodierte Kampfmittel kontaminiert. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22. Januar 2021, Stand: Januar 2021, S. 24).

Das Vorrücken des IS in Shingal/Sinjar löste eine Fluchtwelle von etwa 200.000 Personen aus. Die volatile Sicherheitslage und die schlechte Versorgungslage in den Herkunftsgebieten (kein fließendes Trinkwasser, keine geregelte Stromversorgung) hält viele Binnenvertriebene von einer Rückkehr ab (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22. Januar 2021, Stand: Januar 2021, S. 18 f). Hindernisse für die Rückkehr der Binnenvertriebenen sind vor allem die mangelnde Sicherheit, die Kontaminierung durch Sprengfallen, die Bedrohung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die innergesellschaftlichen Spannungen, fehlende Unterkünfte und Basisversorgung und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Hinzu kommt insbesondere in den zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten die Unsicherheit bezüglich des Verhaltens irakischer Sicherheitskräfte und der ihnen formell zugehörigen PMF-Milizen (Popular Mobilisation Forces). Aber auch Aktivitäten des IS tragen dazu bei. Ungefähr 4,1 Mio. Menschen im Irak, und damit etwa 8-10 % der Bevölkerung, sind weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22. Januar 2021, Stand: Januar 2021, S. 7.) Die meisten Bemühungen um einen Wiederaufbau von Häusern, Infrastruktur, Unternehmen und Gotteshäusern in Shingal/Sinjar werden durch den Kampf um Einfluss durch rivalisierende Kräfte der PMF, der syrischen YPG, der kurdischen Peshmerga und der ISF verhindert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 17. März 2020, Seite 87). Daher ist die tägliche Grundversorgung der Rückkehrer in den zerstörten Regionen schwer zu gewährleisten. Einige zuvor vom IS besetzte Gebiete sind stark beschädigt und zerstört, so dass es praktisch unmöglich ist, dort eine Unterkunft zu finden. Auch der Zugang zu sauberem Trinkwasser stellt sich in dieser Gegend als Herausforderung dar und medizinische Versorgung und Elektrizität sind an vielen Stellen nicht verfügbar. Für Rückkehrer ist es kaum möglich, genug Geld zu verdienen, um das Nötigste zu erwerben (vgl. VG Münster, Urteil vom 30. März 2022 – 6 K 49/20.A -, juris).

Angesichts dieser Situation kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger in der Lage wären, in ihrer Heimatregion im Distrikt Shingal/Sinjar in der Provinz Ninewa ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen. So trägt der Kläger zu 1. unwidersprochen vor, dass dem Erdboden gleichgemacht worden sei. Zudem sei er Bauer und Schäfer gewesen, seine Schafherde existiere nicht mehr. Den existenziellen Lebensunterhalt vermag der Kläger zu 1. für seine vierköpfige Familie im Distrikt Shingal nicht zu sichern. [...]