LSG Hamburg

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Zitieren als:
LSG Hamburg, Urteil vom 02.12.2021 - L 4 AS 127/20 - asyl.net: M30944
https://www.asyl.net/rsdb/m30944
Leitsatz:

Verkauf von Straßenmagazin begründet Freizügigkeitsberechtigung:

EU-Staatsangehörige, die regelmäßig auf Kommission ein Straßenmagazin verkaufen und damit nicht unwesentlich zu ihrem Lebensunterhalt beitragen, sind gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU als Selbständige freizügigkeitsberechtigt und nicht gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Arbeitnehmerbegriff, Straßenmagazin, freizügigkeitsberechtigt, Leistungsausschluss, SGB II, selbständige Erwerbstätigkeit,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

45 a. Die Kläger gehörten in den Monaten Februar und März 2016 zum Kreis der grundsätzlich leistungsberechtigten Personen nach dem SGB II. Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 4. erfüllten im streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1., 2. und 4. SGB II (zur Hilfebedürftigkeit gem. § 7 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II siehe unten unter b).

46 Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 4. waren auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Sie sind EU-Bürger und waren als selbständig Tätige freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die seit 2013 ausgeübte Tätigkeit als Verkäufer des Straßenmagazins K1 als selbständige Erwerbstätigkeit im Sinne des FreizügG/EU anzusehen. Für die Einordnung als selbständige Tätigkeit kommt es entscheidend darauf an, ob eine unter die europarechtliche Niederlassungsfreiheit (Art 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) fallende Tätigkeit ausgeübt wird. Das FreizügG/EU dient insgesamt der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben (Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 - Freizügigkeitsrichtlinie) und nimmt in § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU erkennbar Bezug auf die europarechtliche Niederlassungsfreiheit. Auf die Niederlassungsfreiheit kann sich berufen, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Tätigkeit ausübt (vgl. EuGH, Urteil vom 25.7.1991 – C-221/89, Rn 20). Der Begriff der Niederlassung ist nach der Rechtsprechung des EuGH weit zu verstehen. Maßgeblich ist die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen (EuGH, Urteil vom 11.3.2010 – C-384/08, Rn 36). Eine Gewinnerzielungsabsicht muss nicht vorrangiges oder einziges Ziel sein, sie muss aber vorhanden sein. [...] Der Verkauf des Magazins K1 stellt eine Teilnahme am Wirtschaftsleben dar und ist nicht lediglich als "Bettelei" einzustufen. Das ergibt sich zum einen daraus, dass die Verkäufer ein echtes wirtschaftliches Risiko tragen. Sie erhalten das Magazin nicht etwas als Kommissionsware, sondern müssen die Zeitungen zu einem festen Preis abkaufen, wobei eine Rückgabe nicht weiterverkaufter Zeitungen ausgeschlossen ist. Das Risiko, eingekaufte Zeitungen nicht loszuwerden und somit den Einkaufspreis vergeblich investiert zu haben, liegt damit allein beim Verkäufer. Zum anderen ist K1 ein redaktionell durchgestaltetes Magazin. Die Käufer erhalten einen echten Gegenwert für den Kaufpreis. Damit ist ein wirtschaftlicher Güteraustausch Hauptzweck der Tätigkeit, auch wenn auf Seiten der Käufer daneben karitative Gesichtspunkte eine Rolle spielen mögen. Schließlich handelte es sich auch nicht um eine völlig untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit, die eine Teilnahme am Wirtschaftsleben nicht zu begründen vermöchte. Die Kläger zu 1. und 4 waren seit 2013 als Verkäufer tätig. Es ist ihnen über mehrere Jahre offensichtlich gelungen, mit dem Erlös aus dieser Tätigkeit sowie dem Kindergeld ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Auch wenn es sich bei K1 um ein niedrigschwelliges Arbeitsprojekt für Menschen in prekärer Lage handelt, ist nach der Auffassung des Senats im Fall der Kläger zu 1. und 4. in der Gesamtschau aufgrund der Dauer und Kontinuität und des insoweit zu bewertenden wirtschaftlichen "Erfolgs", den sie damit erzielt haben, auch in diesem Rahmen bereits von einer kontinuierlichen Teilnahme am Wirtschaftsleben i.S. der genannten Rechtsprechung des EuGH auszugehen. [...]