EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 22.09.2022 - C-245/21, C-248/21 MA u.a. gg. BR Deutschland (Asylmagazin 12/2022, S. 408 f.) - asyl.net: M30945
https://www.asyl.net/rsdb/m30945
Leitsatz:

Keine Unterbrechung der Überstellungsfrist bei Aussetzung der Dublin-Überstellung wegen Covid-19-Pandemie:

1. Der Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO wird nicht dadurch unterbrochen, dass ein Mitgliedstaat eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung trifft und diese mit der Begründung auf Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO stützt, dass eine Überstellung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei.

2. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO, wonach Behörden bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs die Durchführung einer Überstellungsentscheidung aussetzen und so den Ablauf der Überstellungsfrist unterbrechen können, ist nur dann anwendbar, wenn die Aussetzungsentscheidung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person steht und zu dem Zweck erfolgt, dass sie sich bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs im Mitgliedstaat aufhalten kann.

3. Die praktische Unmöglichkeit einer Überstellung rechtfertigt nicht die Unterbrechung des Ablaufs der Überstellungsfrist. Für bestimmte Fälle praktischer Unmöglichkeit (Inhaftierung und "Flüchtigsein") sieht Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO vor, dass die Überstellungsfrist auf bis zu zwölf bzw. 18 Monate verlängert werden kann. Hierbei handelt es sich um eng auszulegende Ausnahmetatbestände, die eine Verlängerung der Überstellungsfrist vorsehen, aber keine Unterbrechung dieser.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des BVerwG, Beschluss vom 26.01.2021 - 1 C 52.20 (Asylmagazin 5/2021, S. 178 ff.), gleichlautend: 1 C 53.20 - asyl.net: M29259)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Corona-Virus, Aussetzung, Unterbrechung der Frist, Fristablauf, Überstellungsfrist, Haft, flüchtig, Rechtsbehelf, Aussetzung der Vollziehung, praktische Unmöglichkeit,
Normen: VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 4, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen
Zu den jeweiligen Fragen 1 und 2
37 Mit seinen jeweiligen Fragen 1 und 2 in den Rechtssachen C-245/21 und C-248/21, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass die in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Überstellungsfrist unterbrochen wird, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats auf Art. 27 Abs. 4 der Verordnung gestützt eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung einer
Überstellungsentscheidung mit der Begründung erlassen, dass diese Vollziehung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei. [...]

59 In Anbetracht der Unterbrechungswirkung, die die auf Art. 27 Abs. 4 der Verordnung gestützte Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung, wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf die Überstellungsfrist hat, brächte eine Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass sie die Mitgliedstaaten ermächtigen würde, den zuständigen Behörden zu gestatten, die Durchführung von Überstellungsentscheidungen aus einem Grund auszusetzen, der nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person steht, die Gefahr mit sich, der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung genannten Überstellungsfrist jegliche Wirksamkeit zu nehmen, die sich aus der Dublin-III-Verordnung ergebende Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zu verändern und die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz dauerhaft in die Länge zu ziehen. [...]

61 Folglich ist davon auszugehen, dass eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung von den zuständigen Behörden im Einklang mit Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-Verordnung nur dann angeordnet werden darf, wenn die im Zusammenhang mit dieser Durchführung gegebenen Umstände erkennen lassen, dass der betroffenen Person, um ihr einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, zu gestatten ist, sich bis zum Erlass einer abschließenden Entscheidung über den Rechtsbehelf weiterhin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufzuhalten, der die Überstellungsentscheidung getroffen hat.

62 Daraus ergibt sich, dass eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung mit der Begründung, dass diese Durchführung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei, nicht als eine Entscheidung angesehen werden kann, die in Anwendung von Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-Verordnung getroffen werden kann, da diese Begründung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person steht.

63 Mit dem vom vorlegenden Gericht und der deutschen Regierung angesprochenen Umstand, dass die tatsächliche Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, nach deutschem Recht Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung begründen könne, lässt sich dieses Ergebnis nicht in Frage stellen.

64 Zum einen steht die Widerruflichkeit einer Entscheidung über die Aussetzung einer Überstellungsentscheidung der Annahme entgegen, dass diese Aussetzung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung und mit dem Ziel angeordnet wurde, den gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person sicherzustellen, da nicht auszuschließen ist, dass es vor dem Abschluss dieses Rechtsbehelfs zu einem Widerruf der Aussetzung kommt.

65 Zum anderen war der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne.

66 Er hat nämlich keine allgemeine Bestimmung in diese Verordnung aufgenommen, die eine solche Unterbrechung oder eine solche Aussetzung vorsieht.

67 Für bestimmte häufige Fälle der praktischen Unmöglichkeit der Durchführung der Überstellungsentscheidung hat sich der Unionsgesetzgeber in Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung zudem darauf beschränkt, vorzusehen, dass die Überstellungsfrist auf höchstens ein Jahr verlängert werden kann, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betroffenen Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf 18 Monate, wenn die betroffene Person flüchtig ist.

68 Abgesehen davon, dass diese Bestimmung weder eine Unterbrechung, noch eine Aussetzung der Überstellungsfrist vorsieht, sondern ihre Verlängerung, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Verlängerung Ausnahmecharakter zukommt und sie somit eng auszulegen ist, was ihre entsprechende Anwendung auf andere Fälle der Unmöglichkeit der Durchführung der Überstellungsentscheidung ausschließt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 60, und vom 31. März 2022, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. [Unterbringung eines Asylbewerbers in einem psychiatrischen Krankenhaus], C-231/21, EU:C:2022:237, Rn. 54 und 56). [...]

70 Daher können sich die zuständigen Behörden nicht mit Erfolg auf die nach nationalem Recht bei einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Durchführung einer Überstellungsentscheidung geltende Regelung berufen, um die Anwendung von Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-Verordnung zu rechtfertigen und damit die Anwendung der in Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung im Hinblick auf eine zügige Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz festgesetzten Überstellungsfrist zu verhindern.

71 Nach alledem ist auf die jeweiligen Fragen 1 und 2 in den verbundenen Rechtssachen C-245/21 und C-248/21 zu antworten, dass Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass die in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Überstellungsfrist nicht unterbrochen wird, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats auf Art. 27 Abs. 4 dieser Verordnung gestützt eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung mit der Begründung erlassen, dass diese Vollziehung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei. [...]