VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 05.05.2022 - 20 K 11408/16.A - asyl.net: M30957
https://www.asyl.net/rsdb/m30957
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG für Familie aus dem Libanon:

1. Die Hälfte der libanesischen Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze von vier US-Dollar pro Tag, Tendenz steigend.

2. Ein Ehepaar ohne Berufsausbildung, mit vier minderjährigen und insgesamt sechs Kindern, das die letzten Jahre vor ihrer Flucht nach Deutschland nicht im Libanon gelebt hat, wird nicht in der Lage sein, ein wirtschaftliches Existenzminimum zu erwirtschaften. Sie können auch nicht darauf hoffen, in das nationale Armutsprogramm im Libanon aufgenommen zu werden, da dieses allerhöchstens 50 000 Familien, mithin nur einen Bruchteil der bedürftigen Bevölkerung, unterstützt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Armut, Nahrungsmittel,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf eine Ausländerin oder ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.  [...]

Nach Maßgabe dieser - hohen - Anforderungen ist den Klägern aufgrund ihrer individuellen Umstände ein Abschiebungsverbot wegen der derzeitigen humanitären Bedingungen im Libanon zuzuerkennen.

Der Libanon befindet sich in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Corona-Pandemie sowie die Explosion im Hafen von Beirut am 04.08.2020 haben diese Krise erheblich verschärft. Die Hälfte der libanesischen Bevölkerung lebt nunmehr an oder unter der Armutsgrenze von ca. 4 USD pro Tag, Tendenz steigend. [...]

Nach den Angaben des Klägers zu 1. ist davon auszugehen, dass er nach dem Besuch der Schule eine Tätigkeit als ... ausgeübt hat. Dabei hat er rund 100 $ in der Woche verdient, also rund 400 $ im Monat. Dies ist auch für die damaligen Verhältnisse ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen gewesen. Die Klägerin zu 2. ist nach dem Besuch der Schule bis zu der 4. Klasse als Hausfrau tätig gewesen. Vor diesem Hintergrund sind die Kläger im Falle der Rückkehr grundsätzlich darauf angewiesen, allein aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit ihr Auskommen sichern müssen. Inzwischen hat die negative wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes zu einer verbreiteten Arbeitslosigkeit und einer schlechten Versorgungslage geführt, sodass die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme für ungelernte Kräfte nach Rückkehr in den Libanon sehr ungewiss ist, zumal die Kläger bereits vor der Ausreise jahrelang nicht im Libanon gelebt haben und mit den Verhältnissen nur teilweise vertraut sind. Entsprechend dem traditionellen Rollenverständnis dürfte der Klägerin zu 2. eher die Versorgung der Kinder zufallen, die aufgrund des Alters der fünf jüngsten Kinder sie von einer anderweitigen Berufstätigkeit abhält. Vor diesem Hintergrund und wegen der Größe der Familie ist daher nicht davon auszugehen, dass die Kläger zu 1. und zu 2. im Falle einer Rückkehr in den Libanon unter den aktuell dort herrschenden sehr schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen in der Lage wären, für sich und die Kinder ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Die Kläger haben bereits vor der Ausreise jahrelang nicht im Libanon gelebt. Darüber hinaus sind die Kläger zu 3. bis 8. an die Verhältnisse im Libanon nicht gewöhnt und wären daher auf die Hilfe ihrer Eltern längerfristig angewiesen.

Die Kläger können auch nicht darauf zählen, im Libanon in das nationale Armutsprogramm aufgenommen zu werden. Dieses unterstützt derzeit allerhöchstens 50.000 Familien, mithin nur einen Bruchteil der tatsächlich hilfsbedürftigen Libanesinnen und Libanesen. Die Hälfte der libanesischen Bevölkerung lebt derzeit an oder unter der Armutsgrenze. [...]