EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.10.2022 - C-241/21 L.L. gg. Estland - asyl.net: M30974
https://www.asyl.net/rsdb/m30974
Leitsatz:

Inhaftierung ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger nur bei Vorliegen gesetzlich geregelter Haftgründe:

1. Die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Rückkehrverfahren anhängig ist, ist ein schwerer Eingriff in das Recht auf Freiheit, weswegen strenge Garantien einzuhalten sind, insbesondere das Bestehen einer klaren, vorhersehbaren, zugänglichen und Schutz vor Willkür bietenden Rechtsgrundlage.

2. Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 darf die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen deshalb nicht allein auf Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung angeordnet werden, ohne dass ein zur Umsetzung dieser Bestimmungen in nationales Recht spezifisch geregelter und klar definierter Haftgrund vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftgründe, Rückführungsrichtlinie, Estland,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 7, GR-Charta Art. 6, GR-Charta Art. 52 Abs. 1, EMRK Art. 5 Abs. 1, AEUV Art. 267
Auszüge:

[...]

28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung anzuordnen, ohne dass einer der durch die Gesetzgebung zur Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht spezifisch geregelten und klar definierten Haftgründe vorliegt.

29 Nach den Erläuterungen, die es dem Gerichtshof gegeben hat, steht für das vorlegende Gericht fest, dass die Umstände des Ausgangsrechtsstreits keinem der spezifischen Haftgründe nach § 15 Abs. 2 VSS genügten, mit dem Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in estnisches Recht umgesetzt werden soll, wobei diese Haftgründe sich auf das Vorliegen von Fluchtgefahr, eine Verletzung der Pflicht zur Kooperation beziehungsweise das Fehlen der für die Rückreise erforderlichen Dokumente stützen. Das vorlegende Gericht ist vielmehr der Ansicht, dass das in der Vorlagefrage genannte allgemeine Kriterium, nämlich die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung, erfüllt sei, da die reale Gefahr bestanden habe, der Betroffene begehe eine Straftat, deren Aufklärung und Ahndung die Abschiebung auf unbestimmte Zeit aufschieben könnte.

30 Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ist die Inhaftnahme des Betroffenen nur zulässig, um "[dessen] Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen".

31 Die Mitgliedstaaten dürfen den Betroffenen folglich nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C-519/20, EU:C:2022:178, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Daraus ergibt sich, dass die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens dient und keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung verfolgt (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C-519/20, EU:C:2022:178, Rn. 38).

33 Eine Haftmaßnahme, die von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 angeordnet wird, muss demnach das allgemeine Kriterium erfüllen, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung besteht.

34 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin zu verstehen wäre, dass das allgemeine Kriterium für sich genommen einen Haftgrund darstellt und einem Mitgliedstaat erlaubt, allein auf dieser Grundlage eine Haftmaßnahme anzuordnen.

35 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht nämlich ausdrücklich zwei Haftgründe vor, die zum einen das Bestehen einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie und zum anderen den Umstand betreffen, dass der Betroffene die Vorbereitung der Rückkehr oder des Abschiebungsverfahrens umgeht oder behindert.

36 Zwar ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 bis 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 und vor allem aus dem Ausdruck "insbesondere", dass diese beiden Gründe nicht abschließend sind. Die Mitgliedstaaten können daher zusätzlich zu den beiden in dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehenen Gründen weitere spezifische Haftgründe vorsehen.

37 Allerdings wird die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, zusätzliche Haftgründe festzulegen, durch die Anforderungen begrenzt, die sich aus der Richtlinie 2008/115 selbst ergeben, und durch die Erfordernisse, die aus dem Schutz der Grundrechte und insbesondere des in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechts auf Freiheit resultieren.

38 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 30 bis 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine Haftmaßnahme nur dann angeordnet werden darf, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen beeinträchtigt werden könnte, wobei diese allein darauf gerichtet sein darf, die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten. [...]

48 Zu den Anforderungen, die die Rechtsgrundlage für eine Beschränkung des Rechts auf Freiheit erfüllen muss, um den Erfordernissen von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu genügen, hat der Gerichtshof im Licht des Urteils des EGMR vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009), festgestellt, dass ein nationales Gesetz, das einen Freiheitsentzug zulässt, hinreichend zugänglich, präzise und in seiner Anwendung vorhersehbar sein muss, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C-528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2020, JZ (Freiheitsstrafe im Fall eines Einreiseverbots), C-806/18, EU:C:2020:724, Rn. 41). [...]

50 Bei der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Rückkehrverfahren anhängig ist, die einen schweren Eingriff in das Recht auf Freiheit des Betroffenen darstellt, sind daher strenge Garantien, nämlich Bestehen einer Rechtsgrundlage, Klarheit, Vorhersehbarkeit, Zugänglichkeit und Schutz vor Willkür, einzuhalten (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C-528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40).

51 Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf das Erfordernis einer Rechtsgrundlage festzustellen, dass die Einschränkung des Rechts auf Freiheit unter den Umständen des Ausgangsverfahrens auf § 15 VSS beruht, d. h. auf einer nationalen Rechtsvorschrift, mit der Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 umgesetzt werden soll.

52 Dies vorausgeschickt, stellt sich die Frage, ob die übrigen genannten Garantien in dem der Vorlagefrage zugrunde liegenden Fall beachtet werden, in dem der Betroffene allein aufgrund eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung in Haft genommen wird, ohne dass einer der in dieser nationalen Rechtsvorschrift vorgesehenen spezifischen Haftgründe erfüllt wäre. [...]

54 Ein allgemeines Kriterium, das auf die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung abstellt, genügt jedoch nicht den Erfordernissen der Klarheit, der Vorhersehbarkeit und des Schutzes vor Willkür, wie die Europäische Kommission zu Recht geltend gemacht hat. Aufgrund seiner fehlenden Präzision, insbesondere hinsichtlich der Festlegung der Gesichtspunkte, die von den zuständigen nationalen Behörden bei der Beurteilung des Vorliegens der zugrunde liegenden Gefahr zu berücksichtigen sind, ermöglicht es ein solches Kriterium den Betroffenen nämlich nicht, mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit vorherzusehen, in welchen Fällen sie in Haft genommen werden könnten. Aus diesen Gründen bietet ein solches Kriterium diesen Personen keinen angemessenen Schutz vor Willkür.

55 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung anzuordnen, ohne dass einer der durch die Gesetzgebung zur Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht spezifisch geregelten und klar definierten Haftgründe vorliegt. [...]