VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 16.08.2022 - 5 B 2129/22 - asyl.net: M30982
https://www.asyl.net/rsdb/m30982
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für besonders leistungsfähigen Mann mit sozialem Netzwerk aus dem Sudan:

1. Die Versorgungslage im Sudan ist besorgniserregend und die sozioökonomischen Zustände verschlechtern sich weiter. Es kommt zu wirtschaftlichen Verwerfungen mit Versorgungsengpässen, die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich verdoppelt und die Inflationsrate beträgt bis zu 413 %. Der Angrif Russlands auf die Ukraine hat die ohnehin wachsende Ernährungsunsicherheit verschärft.

2. Aufgrund der außergewöhnlich schlechten humanitären Bedingungen wird auch ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger Mann ohne besondere individuell begünstigende Faktoren seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene nicht befriedigen können. Es droht daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Regelmäßig ist das Bestehen eines Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.

3. Verfügt ein solcher Mann aus dem Sudan jedoch über besondere individuellen Fähigkeiten und daraus resultierenden besseren Voraussetzungen auf dem sudanesischen Arbeitsmarkt oder über ein schutz- und unterstützungsfähiges wie -williges soziales Netzwerk, droht keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sudan, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Versorgungslage, Inflation, Grundnahrungsmittel, soziales Netzwerk, Familienangehörige, Arbeitslosigkeit, Arbeitsgelegenheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta, VwVfG § 51 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

4 Mit Schreiben vom 1. Februar 2022 stellte der Antragsteller einen als "Asylfolgeantrag" überschrieben Antrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten. Er trug im Wesentlichen vor, dass durch den Militärcoup eine verschärfte Situation eingetreten sei, die sich auf die humanitäre Lage auswirke. Des Weiteren verwies er auf aktuelle Rechtsprechung aus dem Jahr 2020 zur Feststellung von Abschiebungsverboten. Die Antragsgegnerin wertete diesen Antrag als "isolierten Wiederaufgreifensantrag" zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (siehe Verwaltungsvorgang, Az. I.).

5 Mit Bescheid vom 21. März 2022 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 11. Dezember 2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab. [...]

6 Der Antragsteller hat mit Schreiben vom 6. April 2022 Klage erhoben mit dem Antrag, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich des Sudans festzustellen. Über die Klage ist bisher nicht entschieden worden (J.).

7 Mit Schreiben vom 20. Mai 2022 hat der Antragsteller zudem einen Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO gestellt. [...]

23 Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Bescheid der Antragsgegnerin ist voraussichtlich rechtmäßig, denn dem Antragsteller steht kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.

24 Während ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Fall eines Folgeantrags unabhängig von den formalen Voraussetzungen des § 51 VwVfG festzustellen wäre (vgl. VG Hannover, Urteil vom 15.3.2022 – 5 A 2750/21 –, jurs Rn. 20 m.w.N.), findet § 51 VwVfG bei isolierten Folgeschutzanträgen unmittelbar Anwendung, da es sich dabei nicht um Asylanträge handelt und § 31 Abs. 3 AsylG keine Anwendung findet (vgl. Dickten in: Beck/OK, Ausländerrecht, Stand 1.4.2022, § 71 AsylG, Rn. 40). Die politischen Umwälzungen und die akuten Versorgungsschwierigkeiten im Sudan könnten eine Änderung der Sachlage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellen. Allerdings spricht auch dann keine ausreichend beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse im Sudan und der individuellen Umstände einer unmenschlichen Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, sodass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG in der Person des Antragstellers nicht erfüllt sind. [...]

28 Gemessen an diesen hohen Maßstäben droht dem Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner in Art. 3 EMRK niedergelegten Menschenrechte. Zwar drohen einem erwachsenen, alleinstehenden, leistungsfähigen sudanesischen Mann ohne individuell begünstigende Faktoren bei einer Rückkehr in den Sudan unter Berücksichtigung der aktuellen Umstände eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Dies gilt jedoch im Regelfall nicht für sudanesische Männer mit besonderen individuellen Fähigkeiten und daraus resultierenden besseren Voraussetzungen für den sudanesischen Arbeitsmarkt oder mit einem schutz- und unterstützungsfähigen sowie -willigen sozialen Netzwerk. Der Antragsteller kann auf ein solches soziales Netzwerk zurückgreifen und hat verbesserte Chancen auf dem sudanesischen Arbeitsmarkt, sodass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. [...]

30 Die sudanesische Versorgung ist von einem großen Ungleichgewicht zwischen Import und Export geprägt, das auf dem geringen Niveau industrieller Prozesse im Lande beruht und u.a. den Bedarf an Grundnahrungsmitteln über den Import sichert. Auch globale Krisen haben daher eine große Wirkung auf die Versorgungslage. Spätestens seit der Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011 befindet sich die  sudanesische Ökonomie in einer Krisensituation, da die Einnahmen aus Ölabbau und -export weitgehend wegfielen (Ille, Gutachten zu den allgemeinen Lebensbedingungen im Sudan, 31.10.2021, S. 4 f.). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Juni 2020 ist die Versorgungslage des Landes besorgniserregend. Hauptursachen sind die hohe Armut, Vertreibungen aufgrund andauernder Spannungen in Darfur und der Grenzregion zum Südsudan (Süd-/Westkordufan, Blue Nil), chronische Ernährungsunsicherheit aufgrund klimatischer und sozioökonomischer Faktoren sowie die seit Beginn 2018 anhaltende Wirtschaftskrise (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Sudan, Juni 2020, S. 8). [...]

31 Die sozioökonomischen Zustände verschlechtern sich trotz der Bemühungen sudanesischer Einrichtungen und internationaler Organisationen weiter (siehe UNITAMS, Situation in the Sudan […], Report of the Secretary-General, S/2021/470, 17.5.2021, S. 7: "[S]ocioeconomic conditions continued to deteriorate") und führen zu schweren wirtschaftlichen Verwerfungen mit Versorgungsengpässen, einer Verdopplung der Preise für Sorghum, Hirse und andere wichtige Waren sowie Inflationsraten von 413 % im Juni 2021 (siehe UNITAMS, Situation in the Sudan […], Report of the Secretary-General, S/2021/766, 1.9.2021, S. 5: "severe economic hardship"). Die jährliche Inflationsrate erreichte im Juli 2021 einen Rekordwert von 423 %, der Umrechnungskurs zum Euro stieg sprunghaft auf ca. 500 sudanesische Pfund an und der Verbraucherpreisindex stieg im März 2021 auf 13.127,74 (Ille, Gutachten zu den allgemeinen Lebensbedingungen im Sudan, 31.10.2021, S. 7-12). Die Armut ist in ländlichen Gebieten zwar grundsätzlich höher, in urbanen Gebieten steigt aber die Arbeitslosigkeit – insbesondere der jungen Bevölkerung – stark. [...]

32 Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine verschärft die ohnehin wachsende Ernährungsunsicherheit im Sudan (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Sudan, Mai 2022, S. 4, 21). [...]

34 Gemessen an diesen tatsächlichen Umständen und angesichts der weiteren Verschlechterungen der Situation in der jüngeren Vergangenheit ist das Gericht der Auffassung, dass derzeit im Sudan so außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vorliegen, dass ausnahmsweise auch ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger sudanesischer Mann ohne besondere individuell begünstigende Faktoren seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene nicht wird befriedigen können und daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. für Kläger ohne soziales Netzwerk auch VG Göttingen, Urteil vom 10.8.2021 – 3 A 486/17 –, juris; VG Stade, Urteil vom 25.5.2021 – 4 A 2640/17 –, juris; und wohl auch VG Lüneburg, Urteil vom 22.2.2021 – 6 A 7/20 –, juris und Urteil vom 10.6.2021 – 6 A 350/19 –, juris; a. A. aber wohl VG Braunschweig, Urteil vom 25.2.2021 – 3 A 261/20 – juris). [...]

35 2. Demgegenüber können individuelle Faktoren wie besondere individuelle Fähigkeiten mit daraus resultierenden besseren Voraussetzungen für den sudanesischen Arbeitsmarkt oder ein schutz- und unterstützungsfähiges sowie -williges soziales Netzwerk nach Überzeugung des Gerichts im Regelfall eine Verletzung von Art. 3 EMRK verhindern.

36 Ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger sudanesischer Mann mit besonderen individuellen Fähigkeiten kann bessere Voraussetzungen für den Arbeitsmarkt mitbringen und damit gegebenenfalls das individuelle Existenzminimum aus eigener Kraft sichern. Ein höherer Bildungsstandard ist dabei nicht generell ein begünstigender Faktor, da auch die Männer mit höherer Bildung für gewöhnlich auf Erwerbsmöglichkeiten für Ungelernte angewiesen sind. Vielmehr zählen zu den stärkenden Faktoren eine handwerkliche Spezialisierung, Spezialberufe allgemeinen Interesses, technologische Erfahrungen, internationale Erfahrungen und Beziehungen, politische Beziehungen und ein Startkapital [...].

37 Einem erwachsenen, alleinstehenden, leistungsfähigen sudanesischen Mann mit einem schutz- und unterstützungsfähigen sowie -willigen sozialen Netzwerk wird im Regelfall keine Verletzung von Art. 3 EMRK drohen (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 1.7.2021 – VG 5 K 1431/20.A –, juris; VG Wiesbaden, Urteil vom 15.6.2021 – 7 K 5760/17.WI.A –, juris; VG Leipzig, Urteil vom 27. und 28.4.2021 – 7 K 153/18.A). Familiäre und andere soziale Netzwerke sind der hauptsächliche Grund, warum ein Überleben in Khartoum/Omdurman überhaupt möglich ist. [...]

38 3. Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Nach dem gesamten Vorbringen des Antragstellers in den Verwaltungs- und den gerichtlichen Verfahren ist das Gericht der Überzeugung, dass der Antragsteller im Sudan in der Region Nordkordofan in ein schutz- und unterstützungsfähiges sowie -williges soziales Netzwerk eingebunden ist, dass ihn in der Vergangenheit unterstützt hat und bei einer Rückkehr wieder unterstützen würde. [...]