VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 29.08.2022 - 3 A 4215/16 - asyl.net: M30990
https://www.asyl.net/rsdb/m30990
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Familie aus Afghanistan wegen "Verwestlichung":

1. Afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie nicht mehr in der Lage wären, bei einer Rückkehr ihren Lebensstil den in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen anzupassen oder denen dies infolge des erlangten Grads westlicher Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, droht in Afghanistan Verfolgung.

2. Auch einem Mann, der aufgrund seines Verhaltens, seiner toleranten Religiösität, seiner Wertvorstellungen, seiner Sozialisierung und seines Erscheinungsbildes nicht in der Lage wäre, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan so an die dortigen Lebensverhältnisse anzupassen, dass er nicht in den Verdacht geriete, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit in Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen zu setzen, droht Verfolgung.

3. Kindern, die ihre prägenden Kindheitsjahre in Deutschland verbracht haben und sich weder optisch noch hinsichtlich ihres Verhaltens von in einem westlichen Land aufgewachsenen Kindern unterscheiden, ist die Anpassung ihrer Lebensweise an die Verhältnisse in Afghanistan und die Aufgabe ihrer hier erfolgten Sozialisierung nicht zumutbar, wenn nicht gar unmöglich.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Freiburg, Urteil vom 21.09.2021 - A 14 K 9391/17 - asyl.net: M30076)

Siehe auch:

Schlagwörter: Afghanistan, westlicher Lebensstil, Verwestlichung, Familie, Kinder, Frauen,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Ob die Voraussetzungen des § 3 AsylG erfüllt sind oder nicht, richtet sich nach den Umständen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung, siehe § 77 Abs. 1 AsylG. Danach ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Für die Klägerin zu 2. (im Folgenden: Klägerin) ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln und bei Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts unabhängig von einer etwaigen Vorverfolgung eine geschlechtsspezifische Verfolgung mit der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die Klägerin ist einer sozialen Gruppe zuzuordnen, die in Afghanistan bei einer Rückkehr einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt wäre, die jedenfalls in ihrer Kumulation die erforderlichen Gefahrendichte im Hinblick auf Art, Schwere und Anzahl erreichen. [...]

Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG bilden danach auch solche afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgrenzbaren Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 6. Januar 2022 - 3 K 133/21.A - juris Rn. 22 m.w.N.).

Das Gericht geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage in Übereinstimmung mit einer Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 - juris) davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung nach wie vor mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen. [...]

Ausgehend von diesen Maßstäben ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wäre.

Zur Überzeugung des Gerichts steht unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und der individuellen Umstande der Klägerin fest, dass sie ein Verhalten zeigt, das nach der öffentlichen Wahrnehmung in Afghanistan gegen die sozialen Sitten verstößt und ihr deshalb im Falle einer Rückkehr - bzw. sogar der erstmaligen Einreise nach Afghanistan - Verfolgungsmaßnahmen drohen würden. Ihr Verhalten würde als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen als vereinbar angesehen werden. Dabei hat sie eine derart nachhaltige Prägung hinsichtlich des westlichen Lebensstils erhalten, dass ihr eine Aufgabe dieses Lebensstils nicht mehr zumutbar ist. Dies ergibt sich aus folgenden Umständen:

Die Klägerin ist bereits seit dem Jahr 2016 in der Bundesrepublik Deutschland und es ist im Laufe des Verfahrens deutlich geworden, dass sie in die deutsche Gesellschaft gut integriert ist und sie die Lebensgewohnheiten vieler westlicher Frauen angenommen hat. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer aufgeschlossenen, modernen und selbständigen Frau vermittelt, die sich den sozialen Gepflogenheiten in der Bundesrepublik Deutschland aus eigenem Antrieb vollkommen angepasst hat. [...]

Das Gericht ist nach den überzeugenden und eindrücklichen Schilderungen der Klägerin davon überzeugt, dass der westliche Lebensstil ihre Identität maßgeblich prägt, also auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung ihr nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist. Ihre Ausführungen in der mündlichen Verhandlung haben dies nachdrücklich deutlich gemacht. Sie hat überzeugend dargestellt, dass es für sie von besonderer Bedeutung ist, ein selbständiges Leben zu führen und eigenständige Entscheidungen zu treffen, z. B. auch hinsichtlich der Frage des Tragens eines Kopftuchs. Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass es für sie nicht möglich wäre, ein Leben zu führen, das in Afghanistan mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen als vereinbar angesehen würde. Die Klägerin könnte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht durch ihren Familienverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden, weil in Afghanistan nach den glaubhaften Angaben der Kläger nur noch entfernte Verwandte leben, zu denen kein Kontakt mehr besteht. Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin in Afghanistan unweigerlich auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in ihrer Kumulation schweren Menschenrechtsverletzungen gleichkämen und vor denen sie auch ihr Ehemann nicht beschützen könnte. [...]

Das Gericht erachtet es als beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan - ähnlich wie seine Ehefrau - unter dem Gesichtspunkt der sog. "Verwestlichung" wegen einer tatsächlichen und zudem ihm von den Taliban zugeschriebenen religiösen und weltanschaulichen (politischen) Haltung Verfolgungshandlungen in Form von körperlicher Gewalt und Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wäre.

Nach dem persönlichen Eindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger erhalten hat, ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seines Verhaltens, seiner toleranten Religiosität, seiner Wertvorstellungen, seiner Sozialisierung im Ganzen und seines Erscheinungsbildes nicht in der Lage wäre, sich bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan an die dortigen Lebensverhältnisse so anzupassen, dass er nicht in den Verdacht geriete, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit in Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen zu setzen, die das von den Taliban regierte Afghanistan kennzeichnen.

Dabei ist der den unter dem Schlagwort "Verwestlichung" zusammengefassten Prozess nicht vorrangig auf äußere, ggf. veränderliche Merkmale wie Kleidung, Frisur etc. abzustellen, sondern auf die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers, die während eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland eine Prägung durch ganz andere Wertvorstellungen und Weltanschauungen erfahren hat, als wenn er die vergangenen Jahre in seinem Heimatland verbracht hätte. Mit seinen so im westlichen Ausland geprägten persönlichen Vorstellungen und politischen Überzeugungen würde er sich gegen die in seinem Herkunftsland maßgeblichen religiösen und traditionellen Regeln stellen. Eine erzwungene Verleugnung dieses Teils seiner Persönlichkeit, um Verfolgungsakteure von einer gänzlich den dortigen Regeln entsprechenden islamischen Haltung in allen wesentlichen Lebensbereichen trotz seines langen Aufenthalts im Westen zu überzeugen, würde den Kern seiner Persönlichkeit betreffen und ihn damit in seiner Menschenwürde verletzen. [...]

Von einer identitätsprägenden "Verwestlichung" ist im vorliegenden Fall aufgrund der individuellen Situation des Klägers auszugehen. Das Gericht hat aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks keinen Zweifel daran, dass der mittlerweile fast sieben Jahre in der Bundesrepublik lebende Kläger sich vollständig an europäische Verhaltensweisen angepasst hat und in seinem äußeren Erscheinungsbild und Auftreten sich nicht von anderen Männern seines Alters in Europa unterscheidet. Der Kläger arbeitet in Deutschland und lebt, was insbesondere für seine in hohem Maße erfolgte Eingliederung in westliche Gepflogenheiten spricht, ein sehr gleichberechtigtes und tolerantes Familienleben mit seiner Frau und seinen Kindern. [...]

Bei einer Rückkehr in das von den Taliban beherrschte Afghanistan könnte er dieses tolerante Verhalten, gerade in Bezug auf die Respektierung des selbstbestimmten Lebens seiner Ehefrau und seiner Tochter und der Offenheit in religiöser Hinsicht, welches (auch) Ausdruck seiner Persönlichkeit ist, nicht mehr ausleben, sondern würde gerade wegen seines westlichen Denkens auffallen. [...]

Die ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohenden Maßnahmen - insbesondere Festnahme durch die Taliban, Gewaltanwendung und Folter bis hin zu einer Tötung (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Corinne Troxler, "Afghanistan: Gefährdungsprofile", vom 31. Oktober 2021, Seite 18) - sind als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu qualifizieren. [...]

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen auch für die Kläger zu 3. und 4. vor. Diese waren in der mündlichen Verhandlung anwesend und unterscheiden sich nach dem Eindruck des Gerichts sowohl optisch als auch hinsichtlich ihrer Verhaltensweise nicht von gleichaltrigen, in einem westlichen Land aufgewachsenen Kindern. Da sie ihre prägenden Kindheitsjahre in Deutschland verbracht haben und noch nie in Afghanistan gewesen sind, wäre für sie eine Anpassung ihrer Lebensweise an die Verhältnisse in Afghanistan und die Aufgabe ihrer hier erfolgten Sozialisierung zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls nicht zumutbar, wenn nicht gar unmöglich. [...]