VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 07.10.2022 - 12 B 3546/22 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 25 f.) - asyl.net: M31002
https://www.asyl.net/rsdb/m31002
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Polen wegen systemischer Mängel :

"Ein Schreiben des polnischen Ombudsmanns für die Einhaltung der Menschenrechtsstandards vom 25.01.2022 lässt befürchten, dass sich die Unterbringungssituation in den Gewahrsamseinrichtungen für Asylbewerber in Polen als unmenschlich und erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta darstellt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Polen, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Menschenwürde, Haft, medizinische Versorgung,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

7 Für das Asylverfahren des Antragstellers war nach Art. 13 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) zunächst Polen zuständig. [...]

8 Es spricht jedoch vorliegend Einiges dafür, dass die Zuständigkeit Polens nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Eine Überstellung des Antragstellers nach Polen könnte gegenwärtig unzulässig sein, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für ihn dort systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta mit sich bringen. [...]

10 Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU Grundrechte-Charta kann [...] auch in der Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen (vgl. VG Hannover, Beschl. vom 23.02.2022 - 12 B 6475/21 -, juris Rn. 8). Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. [...]

11 Nach diesen Maßgaben liegen inzwischen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen seit dem vergangenen Sommer systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen könnten.

12 Als Reaktion auf den massiven Anstieg der Anzahl von Asylbewerbern (ausgelöst durch die Grenzübertritte von Migranten aus Belarus kommend) hat Polen im letzten Jahr die Zahl der "bewachten Zentren für Ausländer" von 6 auf 9 und die Zahl der Plätze von 628 auf 2.256 bzw. 2.308 erhöht (European Council on Refugees an Exiles (ecre), Asylum Information Database (AIDA), Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 88 und 104; Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022). Nach den Regularien Polens werden Asylbewerber in einer solchen Gewahrsamseinrichtung untergebracht, wenn Alternativen nicht in Betracht kommen und ein Grund für die Inhaftierung vorliegt (vgl. zu den einzelnen Gründen AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 90f.). Es besteht jedoch der Eindruck, dass die Inhaftierung nicht als letztes Mittel eingesetzt und oft automatisch angewandt oder verlängert wird (AIDA, Country Report 2021: Poland, Update May 2022, S. 91; US State Departement vom 12.04.2022, www.ecoi.net/de/dokument/2071352.html). So hat der seit Juli 2021 amtierende, vom polnischen Parlament gewählte Ombudsmann Marcin Wiacek, der für die Einhaltung der Menschenrechtsstandards in Polen zuständig ist, in einem Schreiben vom 25.01.2022 an den Präsidenten des Bezirksgerichts Krosno ausgeführt, dass "trotz der im polnischen Recht vorhandenen Alternativen zur Inhaftierung von Ausländern, die internationalen Schutz suchen, in der Regel diese ultima ratio-Maßnahme angewandt" werde (Marcin Wiacek, https://bip.brpo.gov.pl/sites/default/files/2022-02/RPO_sad_25.1.2022.pdf, Übersetzung aus dem Polnischen durch Deepl.com). [...]  

13 Das oben angeführte Schreiben des polnischen Ombudsmanns Marcin Wiacek vom 25.01.2022 lässt befürchten, dass sich die Unterbringungssituation in den Gewahrsamseinrichtungen als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-Grundrechte-Charta darstellt. Anlass für eine gezielte Recherche zu dem nur in polnischer Sprache abrufbaren Schreiben hat für die Kammer erst der Bericht von Pro Asyl vom 28.07.2022 gegeben, weshalb sie ihre Rechtsprechung zu Rückführungen nach Polen nun ändert (vgl. zuvor die Beschl. vom 25.02.2022 - 12 B 124/22 - n.v., und 15.06.2022 - 12 B 2204/22 - n.v.; vgl. zur jüngeren Rechtsprechung im Übrigen VG Minden, Beschl. vom 05.09.2022 - 12 L 599/22.A - und 02.08.2022 - 12 L 548/22.A -, beide in juris; VG Köln, Beschl. vom 31.08.2022 - 22 L 913/22.A -, juris insb. Rn. 38; VG Düsseldorf, Beschl. vom 10.08.2022 - 12 L 1303/22.A -, juris; VG Dresden, Beschl. vom 27.06.2022 - 3 L 397/22.A -, juris).

14 In dem Schreiben führt Wiacek aus, dass nach unangekündigten Besuchen in bewachten Zentren für Ausländer Anlass zu ernsten Bedenken im Zusammenhang mit möglichen Verstößen gegen den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde bestünde. "Die Überbelegung der Zentren, die schlechten Lebens- und Hygienebedingungen und die unzureichende Durchsetzung der Rechte der dort inhaftierten Personen" könnten seiner Meinung nach "zu einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen". [...]

15 Die Ausführungen des vom polnischen Parlament gewählten Ombudsmannes Wiacek basieren nicht nur auf Überprüfungen der Gewahrsamseinrichtungen vor Ort durch den Ombudsmann und dessen Vertreter, sondern stimmen auch mit weiteren Erkenntnissen überein. [...]

16 Auch die Aussage Wiaceks, dass die medizinische und psychologische Betreuung in den Einrichtungen bei weitem nicht ausreiche, wird anderweitig gestützt: Psychologen, medizinisches Personal und Angehörige von NGOs werden nur beschränkt oder gar nicht in die Gewahrsamseinrichtungen gelassen, kranke Asylbewerber jedoch auch nicht an örtliche Ärzte oder Krankenhäuser überwiesen (Pro Asyl, Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden, 28.07.2022; taz, "Sie behandeln uns wie Tiere", 07.06.2022, taz.de/Streik-in-polnischen-Internierungslagern). [...]