OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.07.2022 - 13 A 11241/21.OVG - asyl.net: M31006
https://www.asyl.net/rsdb/m31006
Leitsatz:

Familienschutz für Eltern eines außerhalb des Verfolgerstaates geborenen Kindes:

"1. Ein sorgeberechtigter Elternteil kann Familienasyl oder internationalen Schutz für Familienangehörige nach § 26 Abs. 3 (i.V.m. Abs. 5) AsylG auch von einem erst im Bundesgebiet geborenen minderjährigen Kind, dem Asyl oder internationaler Schutz zuerkannt wurde, ableiten (entgegen OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.02.2022 - 4 L 85/21 - [asyl.net: M30623]).

2. Der Familienbegriff nach Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU, auf den § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verweist, verlangt hinsichtlich der Voraussetzung, dass die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden haben muss, lediglich eine Familienidentität, nicht jedoch eine Personenidentität dergestalt, dass auch der Stammberechtigte – oder ein ableitungsberechtigter Familienangehöriger – bereits im Herkunftsstaat Teil der Familie gewesen sein muss.

3. Die danach erforderliche Familienidentität ist jedenfalls gegeben, wenn es sich bei dem Stammberechtigten – wie hier – um das eheliche Kind aus einer bereits im Herkunftsland geschlossenen Ehe handelt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Familienschutz, Kinderasyl, Unzulässigkeit, internationaler Schutz in EU-Staat, Qualifikationsrichtlinie, in Deutschland geborenes Kind, Elternasyl,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, AsylG § 26 Abs. 5, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, AsylG § 26 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1
Auszüge:

[...]

30 B. Soweit sie zulässig ist, ist die Anfechtungsklage auch begründet. Der formell rechtmäßige Bescheid der Beklagten vom 14. November 2017 ist materiell rechtswidrig und verletzt die Klägerin gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in subjektiven Rechten. Zwar liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wonach der Asylantrag der Klägerin als unzulässig abzulehnen wäre, grundsätzlich vor (1.). Die Vorschrift wird jedoch im Konkurrenzwege durch § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 AsylG verdrängt, dessen Tatbestandsvoraussetzungen namentlich auch dann erfüllt sind, wenn das stammberechtigte Kind erst außerhalb des Herkunftslandes in eine bereits dort gegründete Familie nachgeboren wird (2.). Da die Unzulässigkeitsentscheidung hiernach aufzuheben ist, wird den getroffenen Nebenentscheidungen bereits die tatbestandliche Grundlage entzogen (3.). [...]

33 2. Eine Entscheidung der Beklagten nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist nämlich auch dann rechtswidrig, wenn - wie hier - zugleich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 26 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 i.V.m. Abs. 1 bis Abs. 3 AsylG vorliegen. [...]

34 Hintergrund ist, dass der internationale Familienschutz – neben der Vereinfachung des Verfahrens und der Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte von mitunter schwierigen und langwierigen Prüfungen der dem Familienangehörigen persönlich drohenden Gefahren (insbesondere der Sippenhaft) – maßgeblich der Aufrechterhaltung der Familieneinheit zu dienen bestimmt ist. [...]

35 Nach diesen Maßgaben ist die Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig, denn die Klägerin hat gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus abgeleitetem Recht.

36 Gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG sind die Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU auf Antrag ebenfalls als Flüchtling anzuerkennen, wenn die Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten unanfechtbar ist (Nr. 1), die Familie im Sinne des Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Stammberechtigte verfolgt wird (Nr. 2), sie vor der Anerkennung des Stammberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben (Nr. 3), die Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (Nr. 4) und sie die Personensorge für den Stammberechtigten innehaben (Nr. 5).

37 Diese Voraussetzungen liegen in der Person der Klägerin vor.

38 a. Der am ... 2018 in der Bundesrepublik geborenen Tochter der Klägerin wurde mit bestandskräftigem Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2018 (vgl. Bl. 58 ff. d. Asylakte ...-273) die Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht wegen einer ihr in Somalia drohenden Genitalverstümmelung zuerkannt. Die Klägerin ist als deren Mutter sorgeberechtigt [...]

39 b. Darüber hinaus hat auch "die Familie" i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden, in dem der Tochter der Klägerin eine Verfolgung droht. Hierfür genügt es, dass die Eltern des nachgeborenen Kindes vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einen ehelichen Familienverbund bildeten [...]. Der Umstand, dass der Ehemann der Klägerin auf Malta verblieben ist, steht dem nicht entgegen, weil die Fortsetzung des Familienlebens weder nach Art. 2 lit. j) noch gemäß Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU notwendig ist [...].

40 aa. Aus der Genese des § 26 AsylG ergibt sich zunächst, dass der Gesetzgeber mit Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU unter Beibehaltung des Rechtsinstituts des "Familienasyls" in nationales Recht umsetzen wollte. Da Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU keine Status- sondern lediglich eine Rechtsfolgenangleichung durch die Mitgliedsstaaten i.S. einer Mindestharmonisierung fordert, wurde die Richtlinie insoweit überschießend (vgl. Art. 3 der Richtlinie 2011/95/EU) umgesetzt (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 21).

41 Weil der Gesetzgeber bei dieser überschießenden Umsetzung in § 26 Abs. 3 AsylG aber zugleich im Sinne einer Rechtsgrundverweisung auf die Legaldefinition des Familienangehörigen in Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU verwiesen hat, richtet sich die Auslegung des Tatbestandsmerkmals "die Familie im Sinne des Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU" ausschließlich nach dem einschlägigen Unionsrecht, insbesondere der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 – 1 C 4.21 –, juris Rn. 27 m.w.N und EuGH, Urteil vom 9. September 2021 – Rs. C-768/19, Rn. 34 f.), obwohl Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU keine Statusangleichung verlangt (s.o.; vgl. hierzu ergänzend: BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 1 B 35.21 –, juris Rn. 11). Die Maßgeblichkeit der unionsrechtlichen Legaldefinition in Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU ist also das Ergebnis des sich aus den Gesetzesmaterialien ergebenden Umsetzungswillens des nationalen Gesetzgebers und resultiert nicht aus einer entsprechenden Umsetzungsverpflichtung.

42 Gerade in dem Verweis auf Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU unterscheidet sich § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG auch von der sprachlich sehr eng gefassten Anspruchsgrundlage des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG. [...]

45 bb. Der danach maßgebliche Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU definiert einen Familienangehörigen einleitend so, dass damit die in den folgenden drei Anstrichen näher bezeichneten Mitglieder der Familie der Person zu verstehen sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist und die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Nach dieser Maßgabe definiert Art. 2 lit. j) dritter Anstrich der Richtlinie 2011/95/EU den Vater, die Mutter oder einen anderen Erwachsenen, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist, als Familienmitglied.

46 Auch diese Tatbestandsvoraussetzungen liegen vor. Die Klägerin ist die sorgeberechtigte Mutter ihrer stammberechtigten, minderjährigen und unverheirateten Tochter und sie hält sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat auf (vgl. oben a. entsprechend). Auch hat die Familie i.S.d. Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU bereits im Herkunftsstaat bestanden, denn hierzu ist lediglich eine Familienidentität und keine Personenidentität erforderlich. [...]