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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 07.10.2022 - 2 A 884/17 - asyl.net: M31013
https://www.asyl.net/rsdb/m31013
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Deserteur belutschischer Volkszugehörigkeit aus Pakistan:

1. Zwar ist davon auszugehen, dass belutschische Personen allein aufgrund ihnen zugeschriebener separatistischer Aktivitäten in die Gefahr geraten können, von Geheimdiensten und anderen Verfolgern menschenrechtswidrig behandelt zu werden, und dass ihnen im Fall einer Rückkehr Verfolgung in Form von Festnahme, Folter, Verschwindenlassen und extralegaler Tötung drohen kann. Im Fall des Klägers ist die exilpolitische Betätigung jedoch so untergeordnet, dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er von pakistanischen Stellen als ernstzunehmender Regimegegner angesehen und infolgedessen derart behandelt wird.

2. Der Kläger hat als Angehöriger der pakistanischen Marine Fahnenflucht begangen, sodass ihm im Fall seiner Rückkehr die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe und damit ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG droht.

3. Aus Europa zurückkehrende Asylsuchende werden grundsätzlich einer Befragung unterzogen, insbesondere, wenn die Behörden einen besonderen Anlass für eine solche Maßnahme sehen. Das ist bei Personen, die als belutschische Volkszugehörige erkennbar sind, der Fall.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Kassel, Urteil vom 19.01.2022 - 4 K 2909/17.KS.A - asyl.net: M30676)

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, Todesstrafe, Desertion, Verfolgung, Verfolgungsgrund, Familienangehörige, ernsthafter Schaden, interne Fluchtalternative, Belutschistan, BRP, Baloch Republican Party, Balutschistan, FBM, Aktivist, Nachfluchtgründe, Exilpolitik
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. [...]

Es ist bereits nicht ersichtlich, dass die vom Kläger genannten Gründe für seine Ausreise aus Pakistan in einem Zusammenhang mit einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten asylerheblichen Merkmale stehen. Der Kläger hat bei seiner Anhörung durch das Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, er habe der pakistanischen Marine angehört und sei desertiert, weil er es nicht mehr ausgehalten habe, dass belutschische Fischer von Marinesoldaten misshandelt oder sogar getötet worden seien. Später hätten Sicherheitskräfte nach ihm gesucht und schließlich das Haus der Familie niedergebrannt. Mit diesem Vortrag legt der Kläger nicht einmal ansatzweise eine eigene Verfolgung dar, die an eines der Merkmale des § 3 Abs. 1 AsylG - beispielsweise an seine belutschische Volkszugehörigkeit bzw. an eine Teilnahme an den Unabhängigkeitsbemühungen belutschischer Gruppierungen - anknüpft. Das Gericht muss daher davon ausgehen, dass der Kläger von den Sicherheitskräften ausschließlich wegen seiner Fahnenflucht und mit dem Ziel gesucht wurde, ihn einer militärstrafrechtlichen Ahndung zuzuführen (siehe dazu unten).

Nach den Erkenntnissen des Gerichts hätte der Kläger im Fall einer Rückkehr nach Pakistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten zu befürchten. Zwar geht das Gericht davon aus, dass belutschische Bürger allein aufgrund ihnen zugeschriebener separatistischer Aktivitäten in die Gefahr geraten können, von den Geheimdiensten und anderen Verfolgern menschenrechtswidrig behandelt zu werden, und dass ihnen im Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland eine Verfolgung in Form von Festnahme, Folter, Verschwindenlassen bzw. extralegaler Tötung drohen kann. Im Fall des Klägers ist die exilpolitische Betätigung jedoch so untergeordnet, dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er von pakistanischen Stellen als ernstzunehmender Regimegegner angesehen und infolgedessen derart behandelt werden würde. [...]

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, sodass sein erster Hilfsantrag Erfolg hat. [...]

Dem Kläger steht in Pakistan auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Zwar geht das Gericht regelmäßig davon aus, dass Asylbewerber aus Pakistan in anderen Teilen ihres Heimatlands, insbesondere in den Großstädten wie Rawalpindi, Lahore, Karatschi, Peshawar oder Multan, eine interne Schutzmöglichkeit i.S.v. § 3e i. V. m. 4 Abs. 3 S. 1 AsylG finden können. Im Fall des Klägers gilt dies jedoch nicht, denn es ist bereits nicht gewährleistet, dass er einen Ort, an dem er Schutz finden könnte, überhaupt ungefährdet erreichen kann. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts (Lagebericht S. 25) werden aus Europa nach Pakistan zurückkehrende Asylsuchende grundsätzlich einer Befragung unterzogen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behörden einen besonderen Anlass für eine solche Maßnahme sehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.08.2018 an das VG Freiburg). Hiervon ist im Fall des Klägers auszugehen, der nach Aussehen und Sprache als belutschischer Volkszugehöriger erkennbar ist (vgl. Amnesty International, Auskunft vom 20.02.2019 an das VG Braunschweig). [...]