OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.09.2022 - 18 E 493/22 - asyl.net: M31023
https://www.asyl.net/rsdb/m31023
Leitsatz:

Zur Anfechtung des Duldungszusatzes "für Person mit ungeklärter Identität":

1. Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren ist grundsätzlich der Zeitpunkt maßgeblich, in dem das Verwaltungsgericht bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang die Erfolgsaussichten prüfen und über den Prozesskostenhilfeantrag entscheiden kann. Ergeht die Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe später, sind zwischenzeitliche Änderungen zu Gunsten der antragstellenden Person in der Regel zu berücksichtigen.

2. Der Duldungszusatz nach § 60b Abs. 1 AufenthG "für Personen mit ungeklärter Identität" ist gemäß § 36 Abs. 1 VwVfG eine Nebenbestimmung zu einer Duldung nach § 60a AufenthG und kann mit einer Anfechtungsklage isoliert angefochten werden.  

3. Wird vor einer Entscheidung über eine solche Anfechtungsklage eine Duldung ohne den Zusatz nach § 60b AufenthG erteilt, hat sich das Klagebegehren wohl nicht erledigt. Denn angesichts der Rechtsfolgen des § 60b Abs. 5 AufenthG, wonach Zeiträume mit einer Nebenbestimmung nach § 60b AufenthG nicht als Vorduldungszeiten zu berücksichtigen sind, werden antragstellende Personen üblicherweise nicht nur die Aufhebung der Nebenbestimmung für die Zukunft begehren, sondern auch deren rückwirkende Aufhebung.

4. Wird mit der Anfechtungsklage explizit nur der Duldungszusatz für einen gewissen Zeitraum angefochten, in der Folge nach Klageerhebung aber weitere Duldungen mit der Nebenbestimmung gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG erlassen, dürfte das klägerische Begehen dahingehend auszulegen sein, dass sich die Anfechtungsklage auch gegen diese Duldungszusätze richtet.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Beschluss erging im Prozesskostenhilfeverfahren; unter Bezug auf: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.07.2021 - 13 ME 246/21 - asyl.net: M30143)

Schlagwörter: Duldung, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Mitwirkungspflicht, Vorduldungszeit, Duldungsbescheinigung, Altfallregelung, Anfechtungsklage, Erledigung, Erledigung der Hauptsache, Prozesskostenhilfe,
Normen: AufenthG § 60b Abs. 1, AufenthG § 60b Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2, VwVfG § 36 Abs. 1, VwGO § 42 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren ist begründet.

Dem Kläger ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht - auch nicht zum Teil oder in Raten - aufbringen kann und die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). [...]

Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem das Verwaltungsgericht bei einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang die Erfolgsaussichten prüfen und über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe entscheiden kann. Dies ist regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme der Fall. Ergeht die gerichtliche Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, sind zwischenzeitliche Änderungen zu Gunsten des Antragstellers in der Regel zu berücksichtigen. In einem solchen Fall ist aus materiell-rechtlichen Gründen der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage und damit auch des Prozesskostenhilfeantrags zu Grunde zu legen. [...]

Von den vorstehenden Grundsätzen ausgehend war das Prozesskostenhilfegesuch nach Eingang (23. Juni 2021) der Klageerwiderung vom 16. Juni 2021 entscheidungsreif. Mit Blick auf zu berücksichtigende spätere Änderungen zu Gunsten des PKH-Antragstellers waren hinreichende Erfolgsaussichten jedenfalls zu bejahen, nachdem der Kläger mit Schriftsatz vom 28. Juni 2021 die Passbeantragung bei der senegalesischen Botschaft nachgewiesen hatte. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles dürfte der Kläger damit nämlich seiner besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG nachgekommen sein. Nach Lage der Dinge dürfte er damit alle ihm zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes vorgenommen haben. [...]

Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts zutrifft, der Rechtsstreit habe sich hinsichtlich der Duldung nach § 60b AufenthG dadurch erledigt, dass der Beklagte ihm am 21. September 2021 eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt hatte. Diese Auffassung setzt voraus, dass der Kläger lediglich für die Zukunft eine Duldung nach § 60a AufenthG angestrebt hat. Das Verwaltungsgericht weist jedoch zu Recht der Sache nach auf den Anrechnungsausschluss in § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG hin, der ein derart enges Verständnis des Begehrens in Frage stellt. [...]

Der Klagebegründung und seinem darin in Bezug genommenen Schriftsatz vom 12. April 2021 ist zu entnehmen, dass der Kläger der Ansicht war, ihm stehe statt der Duldung gemäß § 60b AufenthG eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu. Hinsichtlich der in einem solchen Fall eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten bestand zum damaligen Zeitpunkt noch ein gewisses Maß an Unsicherheit, so dass die Anträge des Klägers im Sinne seiner offenkundigen Interessen auszulegen waren. Danach ist zu berücksichtigen, dass der vom Kläger der Sache nach beanstandete und auf § 60b Abs. 1 AufenthG gestützte Duldungszusatz "für Personen mit ungeklärter Identität'' eine selbständig anfechtbare Nebenbestimmung nach § 36 Abs. 1 VwVfG zu einer Duldung nach § 60a AufenthG ist. Die Anfechtungsklage hat sich deshalb - wohlverstanden - entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht auf die Aufhebung der gesamten Duldung gerichtet, sondern lediglich auf die Aufhebung der dieser beigefügten Nebenbestimmung (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) [...].

Die genannten Zusätze zu den Duldungen vom 14. April und 11. Mai 2021 galten entsprechend ihrem Charakter als Nebenbestimmungen mangels ausdrücklicher abweichender Regelungen lediglich für den Geltungszeitraum der Duldungen, denen sie beigefügt sind. Da bis zum 21. September 2021, an dem der Kläger vom Beklagten eine Duldung ohne den beanstandeten Zusatz erhalten hatte, weitere Duldungen mit dem Zusatz erteilt worden sein dürften (diese sind in den zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegten Verwaltungsvorgängen nicht enthalten), war wiederum bei interessengerechter Auslegung des klägerischen Begehrens davon auszugehen, dass sich die Klage auch gegen den diesen beigefügten Duldungszusatz richten sollte.

Rechtstechnisch stellt die Einbeziehung eines Folgebescheides in den Klageantrag eine - hier wahrscheinlich sachdienliche - Klageänderung nach § 91 VwGO dar, nämlich die Erstreckung der Anfechtungsklage auch auf den Duldungszusatz für einen weiteren Zeitraum und damit auf einen weiteren Streitgegenstand. [...]