OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14.07.2022 - 3 L 9/20 - asyl.net: M31028
https://www.asyl.net/rsdb/m31028
Leitsatz:

Flüchtlingsangerkennung hinsichtlich des Iran bei ernsthaftem und identitätsprägenden Glaubenswechsel zum Christentum:

"Bei zum Christentum konvertierten iranischen Staatsangehörigen besteht im Falle einer Rückkehr in den Iran eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit, wenn der Glaubenswechsel auf einer ernsthaften und ihre religiöse Identität bindend prägenden Hinwendung zur christlichen Religion beruht, so dass davon auszugehen ist, dass der Betreffende auch im Iran entsprechend seinen Glaubensvorstellungen leben bzw. allein unter dem Druck der Verfolgungsgefahr auf die Glaubensbetätigung verzichten wird (Rn. 29)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Christen, Glaubenswechsel, Konversion, Apostasie, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

29 Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in seinem Heimatland der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013, a. a. O. Rn. 31). In diesem Zusammenhang darf von einem volljährigen Antragsteller im Regelfall erwartet werden, dass er schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für die Konversion machen kann und mit den Grundzügen seiner neuen Religion hinreichend vertraut ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. August 2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 14; siehe auch EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2018 - C-56/17 - juris Rn. 84 und 90). Allerdings wird der Umfang des Wissens über die neue Religion maßgeblich von der individuellen Geschichte des Antragstellers, seiner Persönlichkeit, seinem Bildungsniveau und seiner intellektuellen Disposition abhängen, die bei der Beweiswürdigung daher angemessen Berücksichtigung finden müssen (BVerfG, Beschluss vom 3. April 2020 - 2 BvR 1838/15 – juris Rn. 36). Der formale Vollzug des Glaubenswechsels, insbesondere eine Taufe nach den Riten der neuen Glaubensgemeinschaft, mag ein Indiz für einen ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel sein, ist aber im Regelfall allein nicht ausreichend (vgl. VGH BW, Beschluss vom 23. April 2014 - A 3 S 269/14 - juris Rn. 6 m.w.N.; s. auch BVerwG, Beschluss vom 25. August 2015, a. a. O. Rn. 11). [...]

32 2. Ausgehend von diesen Maßstäben sind im Fall der Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 AsylG erfüllt.

33 a) Der Senat lässt offen, ob die Kläger bereits im Iran einer unmittelbar drohenden Verfolgung ausgesetzt waren und ihnen daher die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie zugutekommt. Es erscheint zumindest zweifelhaft, dass die iranischen Behörden, selbst wenn der Vortrag des Klägers zu 1., er sei regelmäßig von staatlicher Seite befragt worden, zutreffend sein sollte, bereits im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus dem Iran ein derart ernsthaftes Interesse an den Klägern besessen haben, dass gegen die Kläger gerichtete Verfolgungshandlungen beachtlich wahrscheinlich waren. [...]

34 b) Den Klägern droht jedoch wegen ihrer Konversion zum christlichen Glauben im Fall einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus religiösen Gründen. [...]

39 Ausgehend von diesen tatsächlichen Feststellungen lässt sich nicht annehmen, dass die Konversion zum Christentum einen iranischen Staatsangehörigen mit ursprünglich schiitischer Religionszugehörigkeit schon für sich genommen einer begründeten Furcht vor Verfolgung aussetzt. Maßgeblich für das Maß der Verfolgungsgefahr ist vielmehr, wie sich der Betreffende in Iran verhält und inwieweit die Konversion nach außen erkennbar ist. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unterliegen Konvertiten einer Verfolgung wegen ihrer Religion, wenn sie ihren christlichen Glauben öffentlich verkünden, unterrichten oder missionieren. Gleiches kann nach den Umständen des Einzelfalls für konvertierte Personen gelten, die noch aus anderen Gründen die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden im Iran erregen. Die Konversion zu einem praktizierten Christentum kann dann gefahrerhöhend wirken. Personen, die ihren Glauben als persönliche Angelegenheit verstehen und ihre Religion nicht öffentlich ausdrücken oder andere missionieren wollen, werden ihren Glauben mit großer Wahrscheinlichkeit im privaten Rahmen dagegen auch in Iran praktizieren können. Das gilt im Regelfall auch für die kollektive Religionsausübung im Rahmen einer Hauskirche als einfaches Mitglied. Eine beachtliche Verfolgungsgefahr allein wegen dieses Umstands lässt sich für diesen Personenkreis nach den ausgewerteten Erkenntnisquellen nicht feststellen. Vielmehr ist die Annahme, dass einem zum Christentum konvertierten Moslem bei einer Rückkehr in den Iran eine rechtserhebliche Verfolgung drohen kann, allein im Falle eines ernst gemeinten, der inneren Glaubensüberzeugung folgenden religiösen Glaubenswechsels gerechtfertigt, weil nur dann davon auszugehen ist, dass er oder sie auch nach einer Rückkehr in den Iran entsprechend seinen oder ihren Glaubensvorstellungen leben und sich dadurch - im Einzelfall - einer Verfolgung durch staatliche Stellen aussetzen bzw. unter dem Druck der Verfolgungsgefahr auf die Glaubensbetätigung verzichten wird [...].

40 bb) Der Senat ist im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von einer ernsthaften und ihre religiöse Identität bindend prägenden Hinwendung der Kläger zur christlichen Religion sowie daran anknüpfend davon überzeugt, dass die Kläger ihren christlichen Glauben - gewissermaßen aus einem inneren religiösen Bedürfnis heraus - auch im Iran offen leben würden. Die Kläger haben in der persönlichen Anhörung durch den Senat in der mündlichen Verhandlung einen nachvollziehbaren inneren Prozess der Auseinandersetzung mit ihren Glaubensvorstellungen und der schlussendlichen nachhaltigen Hinwendung zur christlichen Glaubenslehre dargelegt. [...]

41 cc) Der von den Klägern begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stünde auch nicht entgegen, wenn die Kläger - was der Senat letztlich offen gelassen hat - den Iran unverfolgt verlassen hätten. Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Nach dieser Norm ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht begrenzt. Die subjektiven Nachfluchtgründe müssen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft also nicht auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen [...]. Dessen ungeachtet verletzt eine an den Umstand eines Glaubenswechsels anknüpfende staatliche Verfolgung die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen in besonders schwerer Weise und muss bereits nach dem Sinn und Zweck des Flüchtlingsschutzes auch dann rechtlich relevant sein, wenn - wie hier im Fall der Kläger - der Vollzug des Glaubenswechsels nach der Ausreise des Ausländers aus seinem Heimatstaat stattgefunden hat und aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Ausländers davon auszugehen ist, dass dem Glaubensübertritt jedenfalls im insoweit für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung eine innere Überzeugung und nicht allein asyltaktische Motive zugrunde liegen. [...]