VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 04.10.2022 - 15 ZB 22.30779 (Asylmagazin 4/2023, S. 112 f.) - asyl.net: M31056
https://www.asyl.net/rsdb/m31056
Leitsatz:

Zurückweisung eines Berufungszulassungsantrags des BAMF gegen Flüchtlingseigenschaft einer jemenitischen Frau wegen drohender Zwangsverheiratung:

1. Es spricht vieles dafür, dass die klarstellende Regelung in § 3b Nr. 4 Hs. 3 AsylG, wonach eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft, dahingehend zu verstehen ist, dass es zur Bejahung einer sozialen Gruppe auch in diesem Fall zusätzlich erforderlich ist, dass die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

2. Aufgrund der Bindung des Senats an die im Berufungszulassungsantrag dargelegten Gründe besteht kein Anlass, auf die Frage einzugehen, ob die Gruppe der Frauen im Jemen die Anforderungen des § 3b Nr. 4 AsylG erfüllt, insbesondere ob diese Gruppe im Jemen "eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft andersartig betrachtet wird", und ob insofern auch eine hinreichende Verfolgungsdichte vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.09.2018 - 2 LB 38/18 - openjur; VG Berlin, Urteil vom 17.08.2022 - 31 K 305/20 A - asyl.net: M31230)

Siehe auch:

Schlagwörter: Frauen, Jemen, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, frauenspezifische Verfolgung, Verfolgungsdichte, Berufungszulassungsantrag,
Normen: AsylG § 3b Nr. 4 Hs. 3, AsylG § 3b Nr. 4, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4,
Auszüge:

[...]

6-8 b) Die Beklagte vermag nach den voranstehenden Maßstäben nicht gem. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG darzulegen, dass die von ihr ausdrücklich als "Tatsachenfrage" eingestufte Frage, "ob die Gruppe der Frauen im Jemen, welchen die Zwangsverheiratung droht, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (sog. externer Ansatz)", entscheidungserheblich ist. [...]

10 aa) Im rechtlichen Ausgangspunkt geht die Antragsbegründung - insofern wohl zu Recht - davon aus, dass zur Bejahung auch einer an das Geschlecht anknüpfenden Gruppenverfolgung i.S. von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 3 (1. Alt.) i.V. mit § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG die allgemeinen Voraussetzungen an eine Gruppenverfolgung i.S. von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG vorliegen müssen. Eine Gruppe gilt gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG - im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU - als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 Nrn. a) und b) AsylG müssen kumulativ erfüllt sein. [...] Es spricht Vieles dafür, dass die klarstellende Regelung in § 3b Nr. 4 Halbs. 3 (1. Alt.) AsylG als spezieller Unterfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dahingehend zu verstehen ist, dass zur Bejahung einer Gruppenverfolgung auch in diesem Fall zusätzlich - wie beim Merkmal der sexuellen Orientierung i.S. von § 3b Nr. 4 Halbs. 2 AsylG (vgl. BVerwG, B.v. 23.9.2019 - 1 B 54.19 - juris Rn. 7 f.) - erforderlich ist, dass die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2021 - 23 ZB 21.30370 - juris Rn. 7; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, zu § 3b AsylG Rn. 31a).

11 Auch wenn die Beklagte infrage stellt, dass die vom Erstgericht zugrunde gelegte Gruppe, der eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung droht, im Jemen "von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird", vermag sie mit der von ihr gestellten konkreten Tatsachenfrage keine Entscheidungserheblichkeit im o.g. Sinne darzulegen, weil das Verwaltungsgericht im Rahmen der Rechtsanwendung von § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nrn. 1 und 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3 AsylG nicht hinsichtlich des Verfolgungsgrunds an die "Gruppe der Frauen im Jemen, welchen die Zwangsverheiratung droht", sondern in einem allgemeineren Sinn an die "Gruppe der Frauen" im Jemen angeknüpft hat, denen diverse Diskriminierungen drohten. Das Verwaltungsgericht führt in den Entscheidungsgründen (UA S. 9 f.) aus, die Klägerin würde im Jemen als Zugehörige der sozialen Gruppe der Frauen verfolgt werden, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der dortigen konservativ geprägten Gesellschaft tiefgreifend diskriminiert würden und eine deutlich abgegrenzte Identität hätten sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. Frauen im Jemen seien nämlich - wie diverse Erkenntnisquellen belegten - mit tiefgreifender Diskriminierung durch das Gesetz sowie im täglichen Leben konfrontiert. [...]

12 Auf die von der Beklagten als grundsätzlich angesehenen Frage (ob die Gruppe der Frauen im Jemen, welchen die Zwangsverheiratung droht, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird) kommt es mithin in der Argumentation des Erstgerichts nicht an. Insofern ist auch der Einwand der Beklagten, das Verwaltungsgericht "vermische" Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, nicht gerechtfertigt. Denn das Verwaltungsgericht setzt in dem angegriffenen Urteil gerade nicht zirkelschlussartig die Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgrund in dem Sinne gleich, dass es die Gruppe der Frauen im Jemen, denen Zwangsverheiratung droht, als die ausschlaggebende soziale Gruppe herausstellt, die von der Zwangsverheiratung als geschlechtsspezifischer Verfolgungsmaßnahme betroffen sei.

13 bb) Aufgrund der Bindung des Senats an die dargelegten Gründe (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) und die insofern aufgeworfene (hier: Tatsachen-) Frage der Beklagten, besteht kein Anlass, auf die - über die von der Beklagten als grundsätzlich angesehene und ausdrücklich formulierte Frage hinausgehende - Frage einzugehen, ob die (Groß-) Gruppe der Frauen im Jemen die Anforderungen des § 3b Nr. 4 AsylG erfüllt und insbesondere ob diese Gruppe im Jemen "eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft andersartig betrachtet wird" und ob insofern auch eine hinreichende Verfolgungsdichte vorliegt (zu Letzterem vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2021 - 5 ZB 20.31360 - juris Rn. 11; allg. zum Streitstand, ob und unter welchen Voraussetzungen bei diskriminierenden Maßnahmen bzw. Verletzungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts gegenüber Frauen - so auch bei drohender Zwangsverheiratung - eine an das Geschlecht anknüpfende Gruppenverfolgung anzunehmen ist, vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, zu § 3b AsylG Rn. 35 ff.). [...]