VG Cottbus

Merkliste
Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 08.09.2022 - 5 K 754/19.A - asyl.net: M31075
https://www.asyl.net/rsdb/m31075
Leitsatz:

Keine drohende unmenschliche Behandlung einer anerkannten Familie mit minderjährigen Kindern in Italien:

1. Eine anerkannte Familie mit minderjährigen Kindern wird in Italien eine angemessene Unterkunft finden und in der Lage sein, ein Existenzminimum zu erwirtschaften.  

2. Es ist einer Frau zuzumuten, ihr Kopftuch abzunehmen, wenn es für die Arbeitsaufnahme notwendig ist.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Würzburg, Urteil vom 29.09.2022 - W 4 K 21.30332 - asyl.net: M31149)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Familienangehörige, minderjährig, Aufnahmeeinrichtung, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Kopftuch, Kind, Kinder,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Die Unzulässigkeitsentscheidung über den Asylantrag findet in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ihre Grundlage. [...]

Dem Unzulässigkeitsverdikt steht auch kein höherrangiges Recht entgegen.

Art. 4 EU-GR-Charta schließt ein auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestütztes Unzulässigkeitsverdikt im vorliegenden Falle nicht aus. Ausgeschlossen wäre eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nur, wenn dem Antragsteller im Staat der Schutzgewährung die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen die Gewährleistungen des Art. 4 EU-GR-Charta droht (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 u.a. – und Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. -).

Der für die Beurteilung dieser Gefahr maßgeblichen Rückkehrprognose ist zu Grunde zu legen, dass die Kläger dieses Verfahrens nach Italien zurückkehren würden. Bei der für jedes einzelne Familienmitglied anzustellenden Gefahrenprognose ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in das Zielland der Abschiebungsandrohung zurückkehrt (vgl. BVerwGE 166, 113-125, Rn. 15). [...]

Diese Prognose gemeinsamer Rückkehr zu Grunde gelegt, droht den Klägern keine Verletzung von Art. 4 der EU-GR-Charta. [...]

Die Vorerlebnisse der Kläger, die nach eigenem unbestrittenen und plausiblen Bekunden mit Erhalt des internationalen Schutzes die bisherige Unterkunft verlassen haben, lassen den Schluss auf drohende Obdachlosigkeit auch nicht zu. [...]

Im Falle der Kläger ist im Gegenteil davon auszugehen, dass sie gemeinsam für mindestens ein Jahr mit Unterkunft und Verpflegung versorgt werden.

Die Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten mit Wohnraum ist 2018 durch das sog. "Salvini-Gesetz" entscheidend verbessert worden, indem die sog. SIPROIMI-Zentren für Minderjährige oder Personen mit Schutzstatus reserviert wurden. [...]

Kehren anerkannte Schutzberechtigte aus dem Ausland zurück, kommt es auf den Einzelfall an, ob der Betreffende Zugang zum SAI- (vormals SIPROIMI-) System hat. [...]

Vorliegend ist der Anspruch auf Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI indes nicht durch Erfüllung untergegangen. Es ist davon auszugehen, dass die Kläger während ihres Voraufenthaltes in Italien nicht in einem System der Zweitaufnahme betreut wurde. Nach eigener Darstellung reisten sie unmittelbar nach ihrer Anerkennung als Flüchtlinge nach Deutschland aus. [...]

Im Falle von Familien mit Kindern ist davon auszugehen, dass die regelmäßige Verweildauer von sechs Monaten mit Rücksicht auf besondere Schutzbedürftigkeit von Familien mindestens einmal um weitere sechs Monate auf zumindest ein Jahr verlängert wird. [...]

Ist nach alledem davon auszugehen, dass die Kläger nach der Rückkehr nach Italien angemessene Versorgung und Unterbringung für den Zeitraum von mindestens einem Jahr erfahren werden, sind spätere Entwicklungen in die anzustellende Gefahrenprognose nicht mehr einzustellen. [...]

Etwas Anderes kann nur gelten, wenn nach dem Auslaufen der Hilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch die Hilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – Juris Rn. 25). Die derzeit herrschenden Verhältnisse lassen eine solche Prognose mit der angesichts des Prognosezeitraumes hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit nicht zu. Dabei ist davon auszugehen, dass die Kläger 1. bis 4. in der Lage sein werden, durch eigene Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Dies gilt zunächst für den Kläger zu 1. Seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt erscheinen schon deshalb positiv, weil er ausgebildeter ... ist. Nach eigenem Bekunden in der mündlichen Verhandlung hat er in Jordanien ... Daneben hat er auch als ... gearbeitet. [...] Soweit die Klägerin vorträgt, im fünften Monat schwanger zu sein, besteht angesichts eines zeitlichen Vorlaufs von einem Jahr auch nach der Niederkunft ausreichend Gelegenheit, für eine Betreuung des jüngsten Kindes zu sorgen. Dies erscheint um so realistischer, weil die Klägerin auf langjährige Berufserfahrung im Bereich der Betreuung von Kleinkindern verfügt, weshalb es nahe liegt, dass sie auch in Italien in diesem Bereich Tätigkeiten suchen und finden würde, was die Chancen, einen Platz für das eigene Kind zu finden, erhöht. Vor diesem Hintergrund würde auch die Klägerin zu 2. in der Lage sein, durch eigene Arbeitstätigkeit, sei es auch anfangs mit reduziertem Arbeitsumfang, zum Unterhalt der Familie beizutragen. Der Verweis auf ihren Wunsch, Kopftuch zu tragen, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt mindere, vermag schon deshalb nicht durchzugreifen, weil extreme materielle Not nur dann einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen kann, wenn sie unabhängig vom Willen und den persönlichen Entscheidungen des Betroffenen eintritt. Insofern ist es ihr zuzumuten, falls für die Arbeitsaufnahme erforderlich, das Kopftuch abzunehmen. [...]

Zwar ist es für international Schutzberechtigte nicht einfach, in Italien auf dem freien Markt eine Wohnung zu erhalten. Es bedarf regelmäßig einer größeren Zahl an Kontaktaufnahmen auf Vermietungsangebote. Dies ist für international Schutzberechtigte, die regelmäßig nur über eingeschränkte italienische Sprachkenntnisse verfügen, nachteilig. Um die zu zahlende Miete aufzubringen, kann unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Unterstützung aus dem "National Fund to support acces to rented housing" in Anspruch genommen werden (vgl. dazu Sächsisches OVG, Urteil vom 22. März 2022 – 4 A 389/20.A – Juris Rn. 50). Falls eine Anmietung auf dem freien Wohnungsmarkt nicht gelingen sollte, können sich Familien um eine staatlich geförderte Wohnung bemühen. Der öffentliche soziale Wohnungsbau hat einen Anteil zwischen 5 und 6 Prozent des Gesamtimmobilienmarkts. In absoluten Zahlen umfasst der öffentliche Wohnungsbau rund 800.000 Einheiten mit einer Kapazität für fast zwei Millionen Menschen. Dem sollen 650.000 Anträge auf Zuteilung einer Sozialwohnung gegenüberstehen. Es kann daher zwar abhängig von der Lage in der jeweiligen Region teilweise mehrere Jahre dauern, bis eine berechtigte Person eine Sozialwohnung erhält. Die Wartezeit ist aber nicht einheitlich und kann deutlich kürzer sein. [...] Des Weiteren können sich Familien an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. [...]

Von dieser Lage ausgehend wird es Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes - jedenfalls mit Unterstützung der staatlichen Sozialdienste oder von Hilfsorganisationen - im Allgemeinen rechtzeitig gelingen, außerhalb des Systems der Aufnahmeeinrichtungen eine angemessene Unterkunft zu erhalten und damit eine Obdachlosigkeit zu vermeiden. Wenn ihnen keine Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt gelingt, haben sie einen dringenden Bedarf auf Zuteilung von Wohnraum, der aller Voraussicht nach durch staatliche Stellen und Hilfsorganisationen erfüllt werden wird. [...]

Des Weiteren wird es Familien mit minderjährigen Kindern voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten. Es wird regelmäßig möglich sein, diese Mittel selbst zu erwirtschaften. Arbeitsfähige international Schutzberechtigte haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. [...]

Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - Juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migrantinnen und Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist grundsätzlich zumutbar (BVerwG, Beschl. v. 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 - Juris Rn. 29 m. w. N.). [...]