VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 18.08.2022 - 1 K 644/19.A - asyl.net: M31077
https://www.asyl.net/rsdb/m31077
Leitsatz:

Asylberechtigung für Person aus Russland wegen Übergriffen nach Teilnahme an Demonstration:

1. Eine Person, die aufgrund der Teilnahme an einer Demonstration zur Unterstützung des Oppositionspolitikers Aleksej Naval'nyj zu einem Verhör vorgeladen und dort, sowie von Unbekannten auf der Straße, misshandelt wurde, ist als asylberechtigt anzuerkennen. Die Misshandlung während des Verhörs stellt keinen bloßen Amtswalterexzess dar, sondern ist, wie der Angriff durch Unbekannte, dem russischen Staat als Verfolger zuzuordnen.

2. Aus asylrechtlicher Sicht kann nicht verlangt werden, die politische Überzeugung auf das forum internum zu beschränken, d.h. sich nicht öffentlich zu äußern oder politisch zu betätigen, um weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen.

3. Der Asylberechtigung steht nicht entgegen, dass die betroffene Person erst Monate nach dem letzten Übergriff das Land verlassen hat.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Göttingen, Urteil vom 17.06.2022 - 1 A 14/22 - asyl.net: M30779)

Schlagwörter: Russische Föderation, politische Verfolgung, Asylanerkennung, Demonstration, Vorladung, Amtswalterexzess,
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 2, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat einen Anspruch, als Asylberechtigter anerkannt zu werden. [...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2022, er sei im Anschluss an seine Demonstrationsteilnahme zu Gunsten Alexej Nawalnys vom 07. Oktober 2017 auf dem örtlichen Polizeirevier von einem Polizisten mit der Faust geschlagen und bedroht worden, ebenso auf Tatsachen beruht wie seine Bekundungen, er sei im Vorgriff auf eine erneute Demonstrationsteilnahme am 18. April 2018 von Unbekannten zusammengeschlagen worden. [...]

Der Kläger hat asylerhebliche staatliche Maßnahmen erlitten.

Die Misshandlung auf dem Polizeirevier in Krasnodar im Oktober 2017 ist ebenso asylrelevant wie die Misshandlungen durch Unbekannte im April 2018.

Zwar genügen einfache Vorladungen auf ein Polizeirevier den Anforderungen an die hinreichende Intensität einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung ebenso wenig wie ein kurzzeitiges Festhalten durch die Sicherheitsorgane. Es ist allerdings ebenfalls nicht zweifelhaft, dass ein Faustschlag ins Gesicht ebenso seiner Intensität nach einen asylrechtlich erheblichen Eingriff in die physische und psychische Integrität des Klägers darstellt, wie die Misshandlungen durch Unbekannte im April 2018 asylrelevant sind.

Die Misshandlung auf dem Polizeirevier knüpfte auch an die politische Überzeugung des Klägers an. Das Bundesamt ist der Auffassung, im Rahmen von dessen Befragung auf dem Polizeirevier habe nicht seine politische Einstellung, sondern die "Informationsgewinnung" im Vordergrund gestanden. [...] Die Bedrohung durch die nationalen Sicherheitsbehörden sei mithin keine Verfolgung durch den russischen Staat, denn sie knüpfe nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an und sie sei als Amtswalterexzess zu werten.

Diese Auffassung überzeugt nicht.

Eine Verfolgung ist im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG politisch, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung des Betroffenen zielt. [...]

Hiervon ausgehend war es zwar auch Ziel der Vorladung des Klägers auf das Polizeirevier in Krasnodar, im Rahmen seiner Befragung Einzelheiten über weitere Unterstützer der Opposition in der Russischen Föderation zu erhalten. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Maßnahme nicht einem legitimen staatlichen Interesse diente, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen, sondern vor allem auf die öffentliche politische Meinungsäußerung des Klägers und weiterer Unterstützer der Opposition in Russland zielte, die kontrolliert und im Interesse der Partei "Einiges Russland" und des Präsidenten unterdrückt werden sollte. Der Kläger sollte als ein anders denkender Bürger wegen seiner politischen Überzeugung getroffen werden.

Der weitere Begründungsansatz, das Vorgehen des Polizisten könne dem russischen Staat nicht zugerechnet werden, geht ebenfalls fehl. Der Umstand alleine, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt ohne eine hinreichende Tatsachengrundlage nicht dazu, sie als Exzess eines Amtswalters einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen durch die Behörde oder das Gericht zur politischen Lage im Herkunftsstaat und zur disziplinarischen und strafrechtlichen Verfolgung des Fehlverhaltens von Amtswaltern, andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar [...]. Das Bundesamt untersetzt seine Behauptung, es habe sich um einen "Amtswalterexzess" gehandelt, nicht ansatzweise und diese Behauptung lässt sich der Auskunftslage nach auch nicht untersetzen: [...]

Auch die weiteren Misshandlungen des Klägers im April 2018 waren asylrelevant, denn sie beeinträchtigten ihn nachhaltig in seiner körperlichen Integrität, zielten auf seine politische Einstellung und sie sind ebenfalls dem russischen Staat zuzurechnen.

Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger die Personen, die ihn misshandelten, nicht als Staatsbedienstete, insbesondere als Polizeibeamte, identifizieren konnte. Es ist durch die (glaubhaften) Bekundungen des Klägers über Äußerungen dieser Personen ("Du bist doch gewarnt worden auf der Polizeidienststelle, dass es dir schlecht ergehen kann, aber du hast die Absicht nach Moskau zur Demonstration zu fahren.", Niederschrift, S. 10) offenkundig, dass die Täter in Polizeikreisen zu suchen sind oder jedenfalls mit staatlicher Stellen zusammenarbeiten. Vor diesem Hintergrund muss sich der russische Staat auch diesen asylerheblichen Vorfall zurechnen lassen.

Jedenfalls die dem Kläger vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation im Oktober 2017 und April 2018 insgesamt zugefügten Rechtsverletzungen waren von einer Intensität, die sich nicht nur als eine Beeinträchtigung, sondern als eine - ausgrenzende - Verfolgung darstellt. Sie brachten den Kläger in eine für ihn ausweglose Lage, weil sei ihm zeigten, dass eine öffentliche oppositionelle politische Betätigung nicht möglich sein würde, ohne nachhaltige Eingriffe in die körperliche Integrität gewärtigen zu müssen [...].

Vor diesem Hintergrund steht einer Vorverfolgung auch nicht entgegen, dass der Kläger sein Heimatland legal verlassen hat und dass es sich bei ihm – wie das Bundesamt insoweit zutreffend anmerkt – gerade nicht um eine "exponierte Person" handelt.

Zwar spricht alles dafür, dass der Kläger keine Weiterungen durch Polizei und andere staatlichen Stellen hätte befürchten müssen, wenn er das Land nicht zusammen mit seiner Familie im Dezember 2018 verlassen und sich dort, entsprechend seinen Überlegungen nach den Misshandlungen im April 2018, "ruhig verhalten" und insbesondere davon Abstand genommen hätte, an einer weiteren Demonstration der Opposition teilzunehmen. Das kann von ihm aus asylrechtlicher Sicht jedoch nicht verlangt werden, weil es bedeuten würde, die politische Überzeugung auf den Bereich des forum internum zu beschränken. Zwar kann für den danach unter asylrechtlichen Gesichtspunkten zu fordernden Umfang der dem Ausländer in seinem Heimatland eingeräumten Äußerungs- und Betätigungsmöglichkeiten nicht uneingeschränkt von dem Maßstab ausgegangen werden, der sich bei Anwendung der durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleisteten Rechte ergeben würde. Die politische Betätigungsfreiheit umfasst allerdings ein Mindestmaß an Äußerungs- und Betätigungsmöglichkeiten, über das der Kläger ersichtlich nicht hinausgegangen ist, indem er an einer friedlichen Demonstration zu Gunsten eines Oppositionspolitikers teilgenommen hatte und eine weitere Teilnahme plante.

In anderen Teilen der Russischen Föderation hätte dem Kläger seinerzeit eine inländische Fluchtalternative nur dann zur Verfügung gestanden, wenn er sich entsprechend dem Vorstehenden "ruhig verhalten" und von jeder öffentlichen Kundgebung seiner politischen Auffassung Abstand genommen hätte. Das jedoch konnte von ihm weder seinerzeit verlangt werden noch kann es von ihm im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verlangt werden.

Der Kläger hat sein Heimatland auch in nahem zeitlichen Zusammenhang mit den als Verfolgung gewerteten Misshandlungen aus dem Oktober 2017 und April 2018 verlassen. An dem von Art. 16a Abs. 1 GG geforderten kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehlt es (auch) nicht deshalb, weil der Kläger nach eigenem Bekunden nicht bereits die neuerlichen Misshandlungen im April 2018, sondern erst eine Reportage über Asylsuchende in Deutschland aus dem August/September 2018 zum Anlass genommen hat, das Land im Dezember 2018 legal zu verlassen. [...]