VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 27.10.2022 - 7 K 1198/22.TR - asyl.net: M31078
https://www.asyl.net/rsdb/m31078
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Überstellungsfrist wegen kurzfristiger Abwesenheit:

Eine Verlängerung der Überstellungsfrist wegen "Flüchtigseins" ist nur dann zulässig, wenn die Ortsabwesenheit ursächlich für die Unmöglichkeit der Überstellung ist. Das bedeutet, dass die Verlängerung nur erfolgen kann, wenn der Aufenthaltsort der betroffenen Person zum Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung unbekannt ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 - asyl.net: M30234)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, flüchtig, Dublin III-Verordnung, Wohnsitz,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Alt. 1 Dublin III-Verordnung ist hier die sechsmonatige Überstellungsfrist, die mit der Fiktion der Stattgabe des Aufnahmegesuchs mit Wirkung vom 24. März 2022 am 25. März 2022 zu laufen begonnen hat, am 24. September 2022 abgelaufen (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 42 Dublin III-Verordnung). Diese Frist hat die Beklagte mit ihrer Verlängerungsentscheidung vom 13. Juli 2022 nicht wirksam auf 18 Monate bis zum 25. September 2023 verlängert, weil die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 - 1 C 26.20 -, juris Rn. 28) nicht flüchtig i.S.v. Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 Dublin III-Verordnung war.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo -, juris Rn. 53 ff.) ist ein Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 Dublin III-Verordnung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff "flüchtig" objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht; das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann. Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17. August 2021, a.a.O., Rn. 20). Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 Dublin III-Verordnung ("flüchtig ist") folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021, a.a.O., Rn. 21).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze war die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung des Bundesamts am 13. Juli 2022 nicht flüchtig im vorgenannten Sinn. Dies folgt bereits daraus, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unbekannten Aufenthalts war, nachdem sie nach den Feststellungen der Ausländerbehörde bereits am 11. Juli 2022 in die Aufnahmeeinrichtung zurückgekehrt war. Zudem dürfte die einmalige Überziehung der zulässigen Ortsabwesenheit von drei Tagen um lediglich einen Tag nicht kausal für eine Nichtdurchführbarkeit der Überstellung während des sechsmonatigen Überstellungszeitraums gewesen sein, da weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass in dem lediglich viertägigen Zeitraum der unbekannten Ortsabwesenheit eine Überstellung der Klägerin nach Italien geplant gewesen sein soll oder dass eine Planung und Durchführung der Überstellung während des sechsmonatigen Überstellungszeitraums aufgrund eines sonstigen, einer fortdauernden Flucht gleichstehenden Verhaltens der Klägerin von vornherein sinnlos gewesen wäre. [...]