VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 29.09.2022 - 6 K 283/19 - asyl.net: M31104
https://www.asyl.net/rsdb/m31104
Leitsatz:

Unzumutbarkeit der Passbeschaffung wegen Erfahrungen mit dem syrischen Regime:

1. Die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung kann sich auch aus Erlebnissen und Erfahrungen der betroffenen Person mit dem derzeitigen syrischen Regime ergeben, sodass subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 5 Abs. 1 AufenthV ein Reiseausweis für Ausländer auszustellen ist.

2. Die Unzumutbarkeit ergibt sich im Einzelfall aus dem Umstand, dass Familienangehörige der Klägerin durch das syrische Regime gefoltert wurden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Reiseausweis für Ausländer, Syrien, Qualifikationsrichtlinie, Unzumutbarkeit der Passbeschaffung, Passbeschaffung, Zumutbarkeit,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, AsylG § 4, RL 2011/95/EU Art. 25 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Bei der Unzumutbarkeit von (weiteren) Bemühungen zum Erhalt eines nationalen Passpapieres handelt es sich um einen rechtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Seine Bejahung bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, wobei es grundsätzlich mit Blick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates nicht zu beanstanden ist, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passpapiers durch den Herkunftsstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer erst vornimmt, wenn zumutbare Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind. Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen, kommt dementsprechend nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die den Ausnahmefall begründenden Umstände sind grundsätzlich von dem Ausländer darzulegen und nachzuweisen.

Dabei gilt auch für subsidiär Schutzberechtigte (wie die Klägerin), dass sie vorrangig - im Rahmen der Zumutbarkeit - auf die Ausstellung eines Passpapieres durch den Heimatstaat zu verweisen sind. Auch ihnen ist es im Ausgangspunkt grundsätzlich zuzumuten, sich bei den Auslandsvertretungen des Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen; der Status als subsidiär Schutzberechtigter steht dem nicht per se entgegen [...].

Gemessen an diesen Grundsätzen kann die Klägerin einen syrischen Pass nicht auf zumutbare Weise erlangen bzw. verlängern.

In diesem Zusammenhang bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, ob der Klägerin im Falle einer Vorsprache in der syrischen Botschaft in Berlin - etwa aufgrund ihrer illegalen Ausreise oder Asylantragstellung - tatsächlich Gefahren drohen [...], ob eine solche Vorsprache zu Repressalien gegenüber ihren in Syrien lebenden Familienangehörigen - namentlich ihr Bruder mit seiner Ehefrau - führen könnte [...], ob die Zahlung der Passgebühr als solche [...] zu einer Unzumutbarkeit der Beschaffung eines syrischen Nationalpasses führen könnte [...] oder inwiefern der syrische Staat entsprechende Gebühren zur Finanzierung seines Sicherheitsapparats und des Militärs nutzt [...].

Die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung ergibt sich vorliegend jedenfalls aus den Erlebnissen und Erfahrungen der Klägerin mit dem derzeitigen syrischen Regime.

Das Gericht bezweifelt nicht, dass sowohl die Mutter der Klägerin als auch ihre beiden Brüder und in Syrien gefoltert wurden, um ihren Bruder- einen erklärten Assad-Gegner - ausfindig zu machen, was die Klägerin bereits im Asyl- und Verwaltungsverfahren mitgeteilt und auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung noch einmal glaubhaft, emotional und eindrucksvoll geschildert hat. [...]

Gleichermaßen glaubwürdig erscheint die in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll zum Ausdruck gebrachte - durch die vorbezeichneten Familiengeschichte objektiv untermauerte und deshalb nachvollziehbare -  innere Haltung der Klägerin dem aktuellen syrischen Regime gegenüber, die durch Misstrauen und völlige Ablehnung gekennzeichnet ist. Würde man der Klägerin trotz der Ernsthaftigkeit dieser Haltung eine Vorsprache in der syrischen Botschaft auferlegen, um einen syrischen Pass zu beantragen oder zu verlängern, käme dies der Forderung zur Selbstverleugnung gleich. [...] Vor dem Hintergrund dieser persönlichen und ersichtlich prägenden Erfahrungen ist es der Klägerin daher - in diesem außergewöhnlich gelagerten Einzelfall - ausnahmsweise unzumutbar, zum Erhalt eines Nationalpasses bei der syrischen Botschaft, die das aktuelle syrische Regime, das sich massiver Menschenrechtsverletzungen gegenüber ihren engsten Verwandten schuldig gemacht hat, repräsentiert, vorzusprechen und dieses Unrechtsregime auch noch durch die Zahlung der Passgebühr finanziell zu unterstützen. [...]