OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 28.07.2022 - 5 Bf 49/21.AZ - asyl.net: M31113
https://www.asyl.net/rsdb/m31113
Leitsatz:

Begründungsmangel liegt nur bei völlig ungeeigneter Begründung vor:

"1. Eine Entscheidung ist nur dann nicht mit Gründen versehen, wenn die Entscheidungsgründe vollständig oder zu wesentlichen Teilen des Streitgegenstandes fehlen oder rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, dass sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen. Kein Begründungsmangel im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO liegt vor, wenn die Gründe nicht überzeugend, nur oberflächlich, sachlich unvollständig, unrichtig oder sonst fehlerhaft sind.

2. Für die Frage, ob es sich um eine Straftat von einem gewissen Gewicht i.S.d. § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG handelt, sind internationale und nicht lokale Standards maßgeblich. Kapitalverbrechen werden in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert und entsprechend strafrechtlich verfolgt.

3. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht gemäß Art. 103 Abs. 1 GG schützt die Beteiligten vor sogenannten Überraschungsentscheidungen. Wenn ein Kläger unter Vorlage von Lichtbildern, die gewaltsam getötete Männer erkennen lassen, vorträgt, dreizehn Personen aus Gründen der Blutrache getötet zu haben, stellt es sich nicht als überraschend dar, wenn das Verwaltungsgericht den Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG als erfüllt ansieht.

4. Die rechtliche Würdigung eines individuellen – von dem Kläger unter Vorlage von Lichtbildern selbst vorgetragenen – kriminellen Vorgangs sowie die Feststellung, dass die Russische Föderation eine erhebliche territoriale Ausdehnung aufweist und es sich bei den Städten Moskau, St. Petersburg und Wladiwostok um Millionenstädte handelt, erfordern es nicht, Erkenntnismittel in das Verfahren einzuführen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Asylverfahren, Begründungserfordernis, rechtliches Gehör, Blutrache, schwere nichtpolitische Straftat,
Normen: VwGO § 138 Nr. 6, AsylG § 3 Abs. 2 Nr. 2, GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

1. Die Berufung ist nicht wegen des geltend gemachten Verfahrensmangels der Verletzung von § 138 Nr. 6 VwGO zuzulassen [hierzu unter a)]. Ein Verfahrensmangel ergibt sich auch nicht aus einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO [hierzu unter b)].

a) Die Rüge des Klägers, dass das Urteil im Hinblick auf den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG unzureichend begründet sei, dringt nicht durch.

Der Kläger macht geltend (S. 2 ff. des Zulassungsantrags, dort unter A. 1.), dass eine Darlegung der Rechtssätze und Tatbestandmerkmale des Inhalts der Regelung des § 3 Abs. 2 AsylG fehle. Ebenso fehle eine "Feststellung, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der Rechtssätze und Tatbestandsmerkmale des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG vorliegen und bei Rechtsanwendung diese Tatbestandsmerkmale und Rechtssätze des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG vorliegen". Damit sei das Urteil verworren und nicht rational nachvollziehbar, warum die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG vorlägen. [...]

Diese Rüge greift nicht durch. Eine Entscheidung ist nur dann nicht mit Gründen versehen, wenn die Entscheidungsgründe vollständig oder zu wesentlichen Teilen des Streitgegenstandes fehlen oder rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, dass sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen [....]. Kein Begründungsmangel im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO liegt vor, wenn die Gründe nicht überzeugend, nur oberflächlich, sachlich unvollständig, unrichtig oder sonst fehlerhaft sind [...].

Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben stellen sich die vom Kläger beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts weder als verworren noch als unverständlich oder inhaltslos dar. Vielmehr lassen sie hinreichend klar erkennen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass der Kläger, indem er als Mitglied der Spezialkräfte des russischen Militärs dreizehn (oder fünfzehn) Angehörige des Melchi-Stammes aus Gründen der Blutrache getötet habe, eine schwere nichtpolitische Straftat i.S.d. § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG begangen habe (S. 5 UA). [...]

b) Auch der von dem Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund einer Versagung des rechtlichen Gehörs nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO ist nicht gegeben.

aa) Er macht geltend [S. 5 ff. des Zulassungsantrags, dort unter A. 2. und 2.a)], dass die Entscheidung überraschend und willkürlich sei, da das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Gesichtspunkt des Ausschlusses der Flüchtlingseigenschaft aufgrund des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG nicht erörtert habe. Zudem sei die Auffassung, dass allen zivilisatorischen Grundsätzen Hohn sprechende Tötungshandlungen, auch wenn sie im Rahmen von Kampfeinsätzen im Rahmen einer militärischen Einheit begangen worden seien, die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG erfüllten, ohne dass es der Bezeichnung einer konkreten Strafnorm sowie der Feststellung der objektiven, rechtswidrigen und schuldhaften Begehung bedürfe und stattdessen auf die subjektive Motivation des Betreffenden abzustellen sei, überraschend und willkürlich und werde weder vom Kläger noch vom Bundesamt noch sonst wie vertreten.

Dieses Vorbringen rechtfertigt nicht die Annahme einer Gehörsverletzung. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht gemäß Art. 103 Abs. 1 GG schützt die Beteiligten zwar vor sogenannten Überraschungsentscheidungen. Art. 103 Abs. 1 GG statuiert insoweit jedoch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts. Ein Verstoß kann nur dann vorliegen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen eine gewissenhafte und kundige Partei auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht [...]. Art. 103 Abs. 1 GG schützt jedoch nicht davor, dass das Gericht Tatsachen in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden [...].

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem vom Kläger beanstandeten rechtlichen Ansatz des Verwaltungsgerichts um einen solchen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf zu rechnen hatte. Denn, nachdem der Kläger unter Vorlage von Lichtbildern, die gewaltsam getötete Männer erkennen lassen und von denen er mitgeteilt hatte, diese selbst angefertigt zu haben, vorgetragen hatte, dreizehn Personen aus Gründen der Blutrache getötet zu haben (vgl. S. 2 der Sitzungsniederschrift, Bl. 89 R d.A.), lag es vielmehr nahe, dass das Verwaltungsgericht den Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG, wonach ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, als erfüllt ansehen würde. [...]

bb) Soweit der Kläger unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Überraschungsentscheidung weiter rügt (S. 8 ff., 19, 21, 23 und 24 des Zulassungsantrags), dass das Gericht zu verschiedenen Annahmen nur aufgrund von Quellen und Erkenntnismitteln gekommen sein könne, die es zum Gegenstand des Verfahrens hätte machen müssen, legt er hiermit ebenfalls keine Verletzung seines rechtlichen Gehörs dar.

Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO gebieten, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel (einschließlich Presseberichte und Behördenauskünfte) gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. [...] Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern. Lediglich auf offenkundige Tatsachen, die allen Beteiligten gegenwärtig sind und von denen sie wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sein können, darf die Entscheidung auch ohne ausdrücklichen Hinweis gestützt werden. [...]