VG Halle

Merkliste
Zitieren als:
VG Halle, Beschluss vom 02.12.2022 - 1 B 335/22 HAL - asyl.net: M31130
https://www.asyl.net/rsdb/m31130
Leitsatz:

Zulässiger Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid wegen veränderter Umstände nach Ablauf der Eilantragsfrist:

1. Wird ein zulässiger Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage abgelehnt, kann anschließend wegen veränderter Umstände gemäß § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO Eilrechtsschutz begehrt werden. Wurde kein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG gestellt, kann nach Ablauf der Antragsfrist Eilrechtsschutz gemäß § 123 Abs. 1 VwGO erlangt werden, soweit sich die Begründung des Antrags auf Änderungen der Sach- oder Rechtslage bezieht, die nach Ablauf der einwöchigen Antragsfrist des § 34a Abs. 2 AsylG eingetreten oder ohne Verschulden erst später bekannt geworden sind.

2. Eine solche Änderung der Sach- oder Rechtslage ist der Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO. Auch ein nach Ablauf der Eilantragsfrist erstelltes ärztliches Gutachten, das Reiseunfähigkeit attestiert, kann in dieser Konstellation zulässigerweise gemäß § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemacht werden. Das gilt jedoch nicht für Umstände hinsichtlich des Zielstaats [hier: Kroatien], die bereits innerhalb eines Verfahrens gemäß § 80 Abs. 5 VwGO und innerhalb der Antragsfrist hätten geltend gemacht werden können.

3. Hält sich eine Person seit Monaten nur gelegentlich in der ihr zugewiesenen Unterkunft auf und kann keine stichhaltigen Gründe für die Abwesenheit aus der Unterkunft glaubhaft machen, so ist sie flüchtig gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO.

4. Ärztliche Atteste, die keine Angaben zur Reisefähigkeit, sondern nur zur Diagnose machen, können eine Reiseunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht begründen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich LS. 2: VG Cottbus, Beschluss vom 20.11.2020 - 5 L 441/20.A - asyl.net: M29065)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Kroatien, Attest, vorläufiger Rechtsschutz, Eilantrag, veränderte Sachlage, Überstellungsfrist, Ablauf der Überstellungsfrist,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 2 S. 1, VwGO § 123 Abs. 1, VwGO § 123 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2c, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, § 80 Abs. 5 VwGO, § 80 Abs. 7 VwGO,
Auszüge:

[...]

Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig, insbesondere ist er statthaft. [...]

Er hat lediglich Klage in der Hauptsache erhoben, die beim beschließenden Gericht zum Az. 1 A 42/22 HAL nach wie vor anhängig ist. Wenn - wie hier - die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wegen Verstreichens der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht mehr eröffnet ist und deshalb auch kein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO in Betracht kommt, vermag die Regelung in § 123 Abs. 5 VwGO den Zugang zum einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht zu sperren. Dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG und dem Recht auf ein wirksames Rechtsmittel nach Art. 27 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 - Dublin III-VO - müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen, weil dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient [...]. Dem Antragsteller wäre ansonsten keine Möglichkeit zur vorläufigen Sicherung eigener Rechte eröffnet, deren Durchsetzung er im Hauptsacheverfahren mit seiner Klage verfolgt. Um die gesetzliche Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO und den in § 123 Abs. 5 VwGO für Anfechtungssituationen geregelten Vorrang eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegenüber dem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht zu unterlaufen, kann sich der Rechtsschutzsuchende zur Begründung seines Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz jedoch nur auf Änderungen der Sach- oder Rechtslage berufen, die entweder nach Ablauf der Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingetreten oder ihm ohne Verschulden erst später bekannt geworden sind und damit in dem eigentlich statthaften Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO keine Berücksichtigung hätten finden können [...].

Das trifft auf den vom Antragsteller erhobenen Einwand, die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO sei abgelaufen, und auf die aufgrund der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20. April 2022 geltend gemachte Reiseunfähigkeit zu. Nicht hingegen ist im vorliegenden Verfahren zu prüfen, ob das Asylverfahren in Kroatien systemische Mängel, etwa in Form von sog. "Push-backs" oder "Kettenabschiebungen" in Drittstaaten, aufweist. Denn hierbei handelt es sich um einen Einwand gegen die sich aus den Bestimmungen der Dublin III-VO ergebene Zuständigkeit Kroatiens und damit unmittelbar gegen die vollziehbare Unzulässigkeitsentscheidung in Nr. 1 des Bescheides vom 28. Januar 2022, der bereits hätte im Rahmen eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO geltend gemacht werden können und müssen. [...]

Der Antrag ist jedoch unbegründet. [...]

Vorliegend hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung. Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Frist für die angeordnete Abschiebung nach Kroatien zwischenzeitlich abgelaufen ist. Denn die von der Antragsgegnerin vorgenommene Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate erweist sich nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig. [...]

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der sich dieser anschließenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff "flüchtig" objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht. [...] Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf bei ordnungsgemäßer Belehrung aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen. Der Antragsteller behält aber die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ("flüchtig ist") folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Entscheidung über die Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen. [...]

Hiernach ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Flüchtigseins des Antragstellers der 25. März 2022, weil die Antragsgegnerin die kroatischen Behörden an diesem Tag von der Verlängerung der Überstellungsfrist unter Angabe des Grundes und des neuen Fristendes, wie es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verlangt wird, in Kenntnis gesetzt hatte. In diesem Zeitpunkt war der Antragsteller in Anwendung der obigen Grundsätze nach den Gesamtumständen als flüchtig anzusehen. Dies ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin zwar nicht daraus, dass er bei dem ihm nicht angekündigten einmaligen Versuch seiner Überstellung nach Kroatien am 25. März 2022 nicht in der ihm zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft in ... angetroffen worden war. Allerdings lassen die von der Gemeinschaftsunterkunft geführten Anwesenheitslisten [...] den Schluss zu, dass der Antragsteller seit dem 21. Februar 2022 und damit seit mehr als einen Monat vor dem Überstellungsversuch seinen Lebensmittelpunkt nicht mehr in der Gemeinschaftsunterkunft hatte und somit dort nicht mehr tatsächlich wohnte. Während der Antragsteller im Zeitraum vom 22. Dezember 2021, dem Tag der Zuweisungsentscheidung und des Bezugs der Gemeinschaftsunterkunft, bis zum 20. Februar 2022 bei den von Sozialarbeitern der Unterkunft zweimal täglich durchgeführten Zimmerkontrollen bis auf 3 Tage (26. Dezember 2021, 6. Januar 2022 und 2. Februar 2022) täglich angetroffen worden war, war er vom 21. Februar 2022 bis zum 24. März 2022 bei insgesamt 64 Zimmerkontrollen nur zweimal, nämlich am 6. und am 19. März 2022 jeweils mittags, anwesend, was gegen eine kurze und nur gelegentliche Ortsabwesenheit spricht. Der Anwesenheitsdokumentation der Gemeinschaftsunterkunft ist der Antragsteller nicht substantiiert entgegengetreten. Er hat im vorliegenden Verfahren keine stichhaltigen Gründe für seine fortdauernde Abwesenheit glaubhaft gemacht. [...]

Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse i. S. v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, die die Antragsgegnerin bei Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG zu prüfen hat, liegen nach summarischer Prüfung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vor. Die in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG normierte Vermutung der Reisefähigkeit ist durch die amtsärztliche Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie … vom ... 2022 nicht widerlegt. Das Gutachten trifft keine Aussage zur Reisefähigkeit des Antragstellers. Diese war ausweislich der zu Beginn des Gutachtens formulierten Fragestellung auch nicht Gegenstand des Gutachtenauftrags. Ärztliche Äußerungen, die sich zwar zur Diagnose, nicht aber zur Reisefähigkeit verhalten, genügen zum Nachweis einer Reiseunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht. [...]