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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.11.2022 - A 13 S 3741/20 - asyl.net: M31135
https://www.asyl.net/rsdb/m31135-1
Leitsatz:

Weder Gruppenverfolgung kurdischer Personen noch Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung in der Türkei:

"1. Türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit droht in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine (Gruppen-)Verfolgung allein wegen ihrer Nationalität.

2. Von einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, der in einem Landesteil der Türkei begründete Furcht vor Verfolgung und dort keinen Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat, kann bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des internen Schutzes gemäß § 3e AsylG vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich einem anderen Landesteil der Türkei, insbesondere der Westtürkei, niederlässt.

3. Trotz vorliegender Erkenntnisse über Einzelfälle, in denen Rekruten kurdischer Volkszugehörigkeit in der Türkei während der Ableistung ihres Militärdienstes Opfer gewalttätiger Übergriffe ihrer türkischen Kameraden oder von Vorgesetzten wurden, ist gegenwärtig nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Wehrdienstleistende mit kurdischer Volkszugehörigkeit im Rahmen des Militärdienstes Verfolgung erleiden.

4. Türkischen Staatsangehörigen, die sich dem Wehrdienst noch vor ihrer Musterung durch Ausreise entziehen, droht bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch den türkischen Staat."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, interner Schutz, innerstaatliche Fluchtalternative, Zumutbarkeit,
Normen: AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 2, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist kein Flüchtling, weil seine Furcht, bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland Türkei verfolgt zu werden, nicht begründet ist. [...]

1. Die Furcht des Klägers vor Verfolgung ist nicht schon deshalb begründet, weil er bereits vor seiner Ausreise aus der Türkei verfolgt worden ist. Eine solche Vorverfolgung konnte der Kläger nicht glaubhaft machen. Er kann sich demnach nicht auf die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU stützen, bei einer Rückkehr in die Türkei erneut Opfer einer Verfolgung zu werden. [...]

Der Kläger konnte gemessen daran weder glaubhaft machen, dass er vor seiner Ausreise wegen einer Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen Opfer einer Verfolgungshandlung wurde (a), noch dass er von den türkischen Sicherheitskräften wegen Unterstützungsleistungen für bewaffnete kurdische Kämpfer in Nusaybin bei gewaltsamen Kämpfen vor seiner Ausreise gesucht wird (b). [...]

2. Die Furcht des Klägers vor Verfolgung ist auch unabhängig von dem Vorfluchtgeschehen nicht begründet. Ihm droht bei einer hypothetischen Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Weder besteht eine Gruppenverfolgungssituation für Kurden in der Türkei (a) noch besteht allgemein bei der Wiedereinreise eine relevante Verfolgungsgefahr (b). Der Kläger wird auch nicht aufgrund der Wehrdienstentziehung oder in Erfüllung seiner Wehrpflicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung erleiden (c).

a) Dem Kläger droht als Kurde nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung allein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 und 2, § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG). Eine solche Gruppenverfolgung hat der Kläger weder seitens staatlicher (§ 3c Nr. 1 AsylG) noch seitens zivilgesellschaftlicher Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) zu befürchten. [...]

Für eine solche Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei fehlt es erkennbar an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Es ist in Anbetracht der dem Senat vorliegenden Erkenntnisse nicht anzunehmen, dass Kurden in der Türkei unterschiedslos und ohne das Hinzutreten weiterer Bedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgt werden.

aa) Kurden sind laut dem jüngsten Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei mit 13 bis 15 Millionen Volkszugehörigen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei vom 28.07.2022 - Lagebericht AA -, S. 11) die größte Minderheit (15 bis 18 Prozent) unter den ca. 83 Millionen türkischen Staatsangehörigen [...].

Tatsächlich sind Kurden in der Türkei aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen und vereinzelt auch Übergriffen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. [...]

Von unterschiedlichen Akteuren sind Kurden in vielen Fällen verbalen und in einzelnen Fällen auch gewalttätigen Angriffen ausgesetzt. Diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft sind laut einem Bericht des Europäischen Parlaments nach wie vor ein ernstes Problem (zitiert nach BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 133). Gewalttätige Übergriffe auf kurdische Volkszugehörige haben jüngst zugenommen (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O.). Soweit hierfür alleiniger Anlass die kurdische Volkszugehörigkeit war (vgl. die Darstellungen im BZ-Report Turkey, a. a. O., S. 47 f.; BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 135), handelt es sich jedoch in Anbetracht des großen Bevölkerungsanteils kurdischer Volkszugehöriger in der Türkei immer noch um zweifellos schwerwiegende, aber vereinzelte Fälle. [...]

Für Kurden lässt sich danach unabhängig von besonderen individuellen Merkmalen allgemein keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Verfolgung feststellen [...]. Soweit es faktisch zu staatlichen Diskriminierungen kommt, die allein an die Volkszugehörigkeit anknüpfen, erreichen sie regelmäßig nicht den erforderlichen Schweregrad gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG.

Auch bei kumulierender Betrachtung (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG) der staatlichen Diskriminierung mit Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure ist nicht von einer Gruppenverfolgung auszugehen. Zwar ist die gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden in der Türkei weit verbreitet und sind gewalttätige Übergriffe in der Intensität ihrer Rechtsgutsbeeinträchtigung deutlich schwerwiegender als die vorgenannten staatlichen Maßnahmen. Die Diskriminierung durch die Umgebungsbevölkerung erreicht jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit das Ausmaß einer Menschenrechtsverletzung und gewalttätige Angriffe auf Kurden allein wegen deren Volkszugehörigkeit, d. h. ohne Hinzutreten risikoerhöhender Umstände, treten verglichen mit der großen Zahl von Kurden in der Türkei nicht so häufig auf, dass Kurden - kumulativ betrachtet - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichen Maßnahmen bedroht wären, die so gravierend sind, dass eine Person kurdischer Volkszugehörigkeit in gleicher Weise wie von einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG betroffen wäre. Auf die Frage staatlichen Schutzes gemäß § 3d AsylG kommt es deshalb nicht an.

bb) Auch in der Herkunftsregion des Klägers im Südosten der Türkei besteht für Angehörige des kurdischen Bevölkerungsteils keine Gruppenverfolgungssituation (1). Im Übrigen bestünde bei einer Verschärfung der Lage in der Südosttürkei die Möglichkeit, internen Schutz gemäß § 3e AsylG andernorts in der Türkei in Anspruch zu nehmen (2).

(1) Zwar war die Südosttürkei in den Jahren 2015 bis 2017 Schauplatz heftiger Gefechte zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Milizen. Bei den Auseinandersetzungen gab es auch unter der Zivilbevölkerung nicht wenige Opfer (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 34; International Crisis Group, The Case of Nusaybin, a. a. O., S. 1 ff.). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 148). Die Sicherheitsoperationen der türkischen Regierung richteten sich jedoch ungeachtet der Rechtsgutsverletzungen, die Unbeteiligte bei der Durchführung erlitten, nicht gegen die kurdische Bevölkerung als solche, sondern gegen Kämpfer der PKK und zu ihr gehörige oder mit ihr verbündete Milizen (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 34). [...]

Danach stellt sich die tatsächliche Lage in der Südosttürkei für Kurden zwar als verschärft, jedoch flüchtlingsrechtlich betrachtet nicht erheblich anders dar als in anderen Regionen der Türkei. So dürfte im Südosten der Türkei der Verfolgungsdruck für Personen, die im Verdacht stehen, PKK-Mitglieder, PKK-Unterstützer oder prokurdische Aktivisten zu sein, im Vergleich zu anderen Regionen der Türkei angesichts der angespannten Sicherheitslage und der hohen Präsenz an Sicherheitskräften erhöht sein. Ob es sich bei diesen polizeilichen und Strafverfolgungsmaßnahmen um Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG handelt, bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung. Eine Gruppenverfolgung von Kurden im Südosten der Türkei ergibt sich aus diesen Erkenntnissen unabhängig von deren flüchtlingsrechtlicher Einordnung nicht. Es ist auch für diesen Landesteil gegenwärtig nicht ersichtlich, dass sich die genannten Maßnahmen unterschiedslos gegen Kurden allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit richten, sondern - wenngleich bezüglich Anlass und Durchführung der polizeilichen und justiziellen Maßnahmen rechtsstaatliche Garantien häufig nicht gewahrt sind (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 46 ff.) - sich das Vorgehen gegen Personen richtet, die wegen besonderer Merkmale die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden erregt haben. [...]

(2) Im Übrigen genießen Kurden wie alle türkischen Staatsangehörigen grundsätzlich Freizügigkeit in der Türkei (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 179) und können sich bei einer Verschlechterung der Lage im Südosten der Türkei in anderen Landesteilen niederlassen. Es ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger kein interner Schutz (§ 3e AsylG) andernorts in der Türkei wie beispielsweise in deren Westen zur Verfügung stünde [...].

Insbesondere kann von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). [...]

b) Zwar dürfte sich der Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr einer Personenkontrolle unterziehen lassen müssen, es ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es in deren Rahmen zu einer Verfolgungshandlung kommt.

Bei der Einreise in die Türkei besteht eine allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht AA, a. a. O., S. 23).

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 207). Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können mobile Kommunikationsendgeräte (Handy, Tablet, Laptop) von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge oder Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram usw. festzustellen, die wiederum in Strafverfolgungsmaßnahmen münden können (vgl. Lagebericht AA, a. a. O., S. 23).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. [...]

Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen ist in den letzten Jahren aber kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht AA, a. a. O., S. 22).

Im Fall des Klägers ist danach zwar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er bei der Wiedereinreise als "Musterungsflüchtiger" identifiziert und verhaftet wird [...]. Darin liegt jedoch für sich genommen keine Verfolgungshandlung (dazu sogleich). Unabhängig davon lässt sich im Fall des Klägers kein gesteigertes Gefährdungsprofil feststellen, sodass der Senat an der diesbezüglichen Rechtsprechung des Gerichtshofs festhält, nach der in die Türkei zurückkehrende kurdische Asylbewerber bei ihrer Einreise an der Grenze oder auf dem Flughafen grundsätzlich keiner politischen Verfolgung ausgesetzt sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2013 - A 12 S 2023/11 - juris Rn. 18 f.).

c) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, weil er sich dem Wehrdienst entzogen hat (aa). Die Ableistung des Wehrdienstes ist für kurdische Rekruten auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung verbunden (bb).

aa) Türkischen Staatsangehörigen, die sich dem Wehrdienst noch vor ihrer Musterung durch Ausreise entziehen, droht bei einer Rückkehr in die Türkei regelmäßig nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch den türkischen Staat.

(1) Zwar kann es im Fall des Klägers wegen seiner Wehrdienstentziehung zu einer Strafverfolgung kommen, allerdings handelt es dabei sich nicht um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1, §§ 3a und 3b AsylG. [...]

Eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes ist gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nur eine Verfolgungshandlung, wenn der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Im Übrigen ist eine eventuell drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich genommen keine Verfolgung. Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen sind, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen soll [...].

(2) Für das Wehrstrafrecht der Türkei gilt nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen nichts anderes. Die Sanktionierung bei einer Wehrdienstentziehung durch den türkischen Staat erreicht in dem Stadium der Wehrpflicht, in dem der Kläger sich gegenwärtig befindet, nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen nicht die für die Annahme einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG notwendige Schwere. Sie knüpft auch in ihrer Anwendungspraxis nicht in diskriminierender Weise an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal gemäß § 3b AsylG an. [...]

Die im Fall des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist danach weder unangemessen noch diskriminierend (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).

Der Kläger hat vorgetragen, sich noch keiner Musterung unterzogen und auch keinen Einberufungsbefehl erhalten zu haben. Auch wenn sich türkische Beamte bereits nach seinem Verbleib erkundigt haben sollen, ist davon auszugehen, dass er nach türkischem Recht als "Musterungsflüchtiger" und nicht bereits als sich einem Einberufungsbefehl verweigernder Wehrdienstflüchtiger oder gar als Deserteur gilt. Ihm droht deshalb zunächst eine Verwaltungsgeldstrafe oder eine kürzere Gefängnisstrafe, die nicht als unangemessene Bestrafung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG und damit als Verfolgungshandlung anzusehen sind und nach den vorliegenden Erkenntnissen auch weder in ihrer Anwendung an sich noch in der verhängten Höhe an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal gemäß § 3b Abs. 1 AsylG anknüpfen.

bb) Auch die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt als solche keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird [...]. Trotz vorliegender Erkenntnisse über Einzelfälle, in denen kurdische Rekruten während der Ableistung ihres Militärdienstes Opfer gewalttätiger Übergriffe ihrer türkischen Kameraden oder von Vorgesetzten wurden, ist gegenwärtig nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Wehrdienstleistende mit kurdischer Volkszugehörigkeit im Rahmen des Militärdienstes Verfolgung erleiden. [...]

Es gibt zwar zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 16.09.2020). [...]

Nach vorliegenden Informationen besteht aber keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder der kurdischen noch der alevitischen (vgl. BFA-Länderinfo, a. a. O., S. 78 f.).

Die Ausgestaltung des Militärdienstes ist danach nicht dergestalt, dass kurdische Rekruten wie der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung erleiden werden. Zwar ist damit zu rechnen, dass der Kläger dem türkischen Militär zur Ableistung eines sechsmonatigen Wehrdienstes zugeführt wird. Dass er den Wehrdienst verweigern werde, hat der Kläger nicht vorgetragen, sodass er wie jeder andere Wehrdienstleistende in das türkische Militär eintreten wird. Es lässt sich in Anbetracht der dem Senat vorliegenden Erkenntnisse nicht bereits im Voraus absehen, dass der Kläger im Rahmen der Ableistung des Dienstes von Kameraden oder Vorgesetzten unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden wird. [...]