VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 21 ff.) - asyl.net: M31136
https://www.asyl.net/rsdb/m31136
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft für Jesiden aus dem Irak:

1. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG a.F. (entspricht § 73 Abs. 3 AsylG n.F.) ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Schicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr in das Herkunftsland unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind dabei Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, dass diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Damit wird der psychischen Sondersituation von Personen Rechnung getragen, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungs­schicksal erlitten haben und denen es deshalb auch lange Zeit danach und angesichts veränderter Umstände nicht zumutbar ist, in das Herkunftsland zurückzukehren.

2. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft für eine jesidische Person aus Ninive, die von besonders schwerwiegender Verfolgung bedroht war, scheidet aus, da sie aufgrund der drohenden Verfolgung durch den "Islamischen Staat" noch psychisch belastet ist, aufgrund des Völkermords kein Vertrauen in den Herkunftsstaat hat und als jesidische Person in der Region Kurdistan-Irak weiterhin Diskriminierung durch die muslimische Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt wäre. Dem steht nicht entgegen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf einer Gruppenverfolgung beruhte und die betroffene Person selbst nicht von Verfolgungsmaßnahmen betroffen war, denn es genügt, dass solche unmittelbar bevorstanden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Widerruf, Wegfall der Umstände, Änderung der Sachlage, Yeziden, Irak, Unzumutbarkeit der Rückkehr
Normen: AsylG § 73 Abs. 1 S. 3, AsylG § 73 Abs. 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1 Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und begehrt hilfsweise die Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich des Irak. [...]

20 II. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der als Anfechtungsantrag im Sinne des § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO zulässige Hauptantrag ist begründet. Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 des Bescheids vom 29. September 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. [...]

23 1. Die ursprünglichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) nicht mehr gegeben. [...]

24 Ein Wegfall der Umstände im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Umstände, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. [...]

25 Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier ein Wegfall der Umstände anzunehmen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben. Dem Vermerk vom 30. August 2016 zufolge ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft mit Blick auf eine drohende religiös motivierte Gruppenverfolgung seitens nicht staatlicher Akteure zuerkannt worden. Die dieser Annahme zugrundeliegenden – statusbegründenden – Umstände sind weggefallen. Denn die Lage im Herkunftsstaat des Klägers hat sich insoweit grundlegend geändert, als der sogenannte "Islamische Staat" im Irak und auch in der Heimatregion des Klägers, der Provinz Niniwe, keine quasistaatliche Macht im Sinne des § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt, die Grundlage der von Kämpfern und Anhängern des "Islamischen Staats" durchgeführten großflächigen Verfolgungsmaßnahmen war. Eine Gruppenverfolgung von Jesidinnen und Jesiden im Irak, insbesondere in der Provinz Niniwe oder in Teilbereichen von Niniwe, findet nicht mehr statt [...].

27 Zwar ist nicht zu verkennen, dass mit dem militärischen Sieg über den "Islamischen Staat" weder sämtliche Anhänger noch sämtliche Kämpfer der Terrorgruppe aus dem ehemaligen Herrschaftsgebiet verschwunden sind. Vielmehr ist der "Islamische Staat" trotz seiner territorialen Zurückdrängung weiterhin – wenn auch vor allem im Untergrund – aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mossul und Tal Afar (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, 25.10.2021, S. 5 f., 16; BFA, Länderinformation, 2.3.2022, S. 21 ff.). Auch unter der verbliebenen Zivilbevölkerung dürften sich nach wie vor Sympathisanten befinden. [...]

28 Gleichwohl hat sich die Sicherheitslage insgesamt verbessert (BFA, Länderinformationsblatt, 17.3.2020, S. 14). So ist die Zahl der Anschläge des "Islamischen Staats" im Irak seit 2019 kontinuierlich zurückgegangen und hat 2021 in allen Provinzen außer Salah ad-Din ihren bisherigen Tiefststand erreicht (vgl. Joel Wing, Musings on Iraq, 2021 In Iraq In Review, 3.1.2022). [...]

29 2. Dem Kläger droht auch keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aus anderen Gründen. [...]

31 [...] Insbesondere droht dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aufgrund seiner jesidischen Glaubensüberzeugungen durch andere Akteure als den "Islamischen Staat". [...]

36 3. Indes stehen zwingende Gründe im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG dem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegen. [...] Von einem Widerruf ist dann abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind somit Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, dass diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Der Rückkehr in den Heimatstaat müssen (gegenwärtige) zwingende Gründe entgegenstehen, mit anderen Worten muss eine Rückkehr unzumutbar sein. Diese Gründe müssen außerdem auf einer früheren Verfolgung beruhen. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss daher ein kausaler Zusammenhang bestehen. [...] Vielmehr trägt § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach – auch ungeachtet veränderter Verhältnisse – nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren. [...] Die Vorschrift erlaubt es dementsprechend, besonderen Verhältnissen eines Flüchtlings Rechnung zu tragen, insbesondere, wenn dieser ein besonders schwerwiegendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und ihm deshalb eine Konfrontation mit dem Land der ehemaligen Verfolgung nicht zuzumuten ist, namentlich dann, wenn Retraumatisierungen nicht auszuschließen sind, was – zwar prinzipiell ausgehend von einer objektiven Beurteilung der Zumutbarkeit – eine besondere Berücksichtigung der individuellen Einschätzung der konkreten Situation des Flüchtlings und die Einbeziehung dessen subjektiver Sichtweise erlaubt und erfordert [...]. Erforderlich ist eine umfassende und individuelle Prüfung der Zumutbarkeit der Rückkehr [...].

37 Diese Maßstäbe zugrunde gelegt liegt hier ein Ausnahmefall im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG vor.

38 Der Kläger war von besonders schwerwiegender Verfolgung bedroht. Er ist Jeside, stammt aus der Region Shingal/Sinjar und ist in Mossul aufgewachsen. Ende 2015 verließ er sein Heimatland aus Furcht vor Verfolgung durch die Terrorgruppe "Islamischer Staat", die im Sommer 2014 unter anderem Mossul sowie die von Angehörigen des jesidischen Glaubens bewohnten Ortschaften in der Region Shingal/Sinjar unter seine Kontrolle gebracht, den Großteil der Jesidinnen und Jesiden vertrieben und Tausende von ihnen getötet oder entführt hat (hierzu und zum Folgenden: Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2021, S. 18 f.). [...] Die Mission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) und des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) hat Gewalttaten wie gezielte Tötungen, Massaker an Jesidinnen und Jesiden, Verschleppungen sowie Vergewaltigungen und Verstümmelungen jesidischer Frauen untersucht und dokumentiert [...].

39 Mehrere internationale Organisationen und Staaten haben diese Verbrechen des "Islamischen Staats" an den Jesidinnen und Jesiden als Völkermord eingestuft, so etwa das Untersuchungsteam der Vereinten Nationen zur Förderung der Rechenschaftspflicht für von Da’esh/ISIL begangenen Verbrechen [...].

40 Wenngleich derzeit nicht mehr von einer gezielten Verfolgung von Angehörigen des jesidischen Glaubens im Irak auszugehen ist (s.o.), wirken die an den Jesidinnen und Jesiden begangenen Verbrechen des "Islamischen Staats" fort: Nach Angaben des Religionsministeriums der Region Kurdistan-Irak war das Schicksal von etwa 2.800 Entführungsopfern im Oktober 2020 weiterhin ungewiss [...].

41 Der Anwendbarkeit von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG auf den Fall des Klägers steht nicht entgegen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf einer Gruppenverfolgung beruhte und der Kläger von Verfolgungsmaßnahmen nach eigenen Angaben selbst nicht unmittelbar betroffen war. Die Anwendbarkeit von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG setzt nicht voraus, dass der Ausländer tatsächlich einen Verfolgungseingriff erlitten hatte; es genügt, dass ein solcher unmittelbar bevorstand [...].

42 Der Kläger hat auch glaubhaft gemacht, dass er aufgrund der drohenden Verfolgung durch den "Islamischen Staat" aktuell noch psychisch belastet ist. Er hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert, dass sich das im Irak vor seiner Flucht Erlebte, insbesondere der Anblick getöteter Menschen auf der Straße, immer wieder in sein Bewusstsein dränge – es laufe eine Art Film in seinem Kopf ab – und ihn in Albträumen quäle. Ferner hat er dargelegt, dass er infolge der Situation im Irak während der Herrschaft des "Islamischen Staats" starkes Misstrauen gegenüber anderen Menschen empfinde und kein Vertrauen in sein Herkunftsland habe [...].

43 Zu berücksichtigen ist überdies, dass Angehörige des jesidischen Glaubens nach der Erkenntnislage sowohl in der Herkunftsprovinz des Klägers als auch in der Region Kurdistan-Irak Diskriminierungen seitens der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt sind [...].

44 Angesichts dieser einzelfallbezogenen Umstände – des besonders schwerwiegenden Verfolgungsschicksals, der hierauf beruhenden, fortdauernden psychischen Belastungen und des fehlenden Vertrauens des Klägers in sein Herkunftsland sowie der anhaltenden Diskriminierungen, denen sich die jesidische Bevölkerung im Irak ausgesetzt sieht – kann von dem Kläger nicht erwartet werden, dass er in sein Herkunftsland zurückkehrt. [...]