Aufhebung eines Dublinbescheides wegen systemischer Mängel in Italien:
1. Eine Person, die nach Abgabe von Fingerabdrücken in Italien ihre Unterkunft verlassen hat, wird der Unterkunftsanspruch entzogen, sodass ihr nach einer Überstellung Obdachlosigkeit droht. Es bestehen keine Anhaltspukte dafür, dass hiervon nicht auch Personen betroffen sind, die in Italien kein Asylgesuch geäußert haben.
2. Es stehen betroffenen Personen auch keine anderweitige Unterbringung zur Verfügung, da Sozialwohnungen teilweise erst nach mehrjährigem Aufenthalt und nach langen Wartelisten vergeben werden und die verfügbaren Notschlafplätze für obdachlose Personen nicht ausreichen, um eine Verletzung der Rechte aus Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK zu verhindern.
3. Eine drohende Obdachlosigkeit stünde auch dem Zugang zum Asylverfahren entgegen, weil Polizeidienststellen für die Antragstellung häufig den Nachweis einer örtlichen Wohnung verlangen und Personen, die vom öffentlichen Aufnahmesystem ausgeschlossen sind, schon an der Antragstellung gehindert werden.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901)
[...]
16 II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. [...]
20 1. Es steht nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es auch und gerade unter Berücksichtigung der vorgelegten Erklärung des Fachreferats der Beklagten im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich brächten, und die Beklagte die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Klägers wirksam auszuschließen. [...]
23 Dem Kläger droht nach der einschlägigen Berichtslage, aber auch nach der eigenen fachlichen Einschätzung der Beklagten im Falle einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit sowohl infolge der mangelhaften Ausstattung als auch infolge der rechtlichen Gestaltung des italienischen Aufnahmesystems.
24 Asylsuchende haben zwar nach dem im Dezember 2020 in Kraft getretenen Gesetz 173/2020 nun auch Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI (ehemals SPRAR, dann SIPROIMI). Eine Aufnahme ist aber nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Plätze möglich, eine Erhöhung der Anzahl der Plätze ist nicht vorgesehen. Die Anzahl der Plätze reicht immer noch bei Weitem nicht aus, um der Nachfrage gerecht zu werden. Priorität haben vulnerable Personengruppen. Der Zugang für Asylsuchende wie Dublin-Rückkehrer ist daher faktisch fast unmöglich. [...]
26 Neben die tatsächlichen Hindernisse für Antragsteller, eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, tritt als rechtliches Hindernis, dass schon dieses Minimum an Aufnahmebedingungen Antragstellern wie dem Kläger, der nach der Abgabe von Fingerabdrücken seine Unterkunft verlassen hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entzogen worden sein wird. Diese – gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene – Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. EuGH, Urteil vom 12.11.2019 – C-233/18 Haqbin –, juris Rn. 47) nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i. V. m. Art. 1 GRCh entgegen. Sie stellt damit einen systemischen Mangel im oben beschriebenen Sinne dar. [...]
31 Dem Kläger droht aus diesem systemischen Mangel auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte. Soweit das Verwaltungsgericht Minden davon ausgeht, dass diese Praxis jedenfalls Asylsuchende betrifft, die eine verbalizzazione geäußert haben und dies durch einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 belegen, hat das Gericht keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass nicht auch der Kläger von dieser Praxis betroffen ist, weil er gar keinen Asylantrag gestellt, sondern die Unterkunft einfach verlassen hat. Auch die Beklagte geht in ihrer Stellungnahme davon aus.
32 Es besteht mithin die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger bei Rückführung nach Italien dort obdachlos würde, was mit seiner Menschenwürde und Art. 4 GRCh nicht vereinbar ist. Soweit die Beklagte dem entgegenhält, dass sich der Kläger aus eigenem Entschluss in seine Situation begeben habe, weil er nach seiner Einreise in Italien keinen Asylantrag gestellt hatte, greift dieser Einwand nicht durch. Denn der Kläger hat zwischenzeitlich (bei der Beklagten) einen Asylantrag gestellt, für den die Republik Italien nach der Dublin III-Verordnung zuständig ist. Wenn die Republik Italien ihm gleichwohl verwehrt, ihn als Schutzsuchenden zu behandeln, räumt sein früheres Versäumnis weder die ihm drohende Verletzung der Menschenwürde aus, noch wird diese dadurch zumutbarer.
33 Es stehen dem Kläger voraussichtlich auch keine anderweitigen Möglichkeiten zur Verfügung, eine Unterkunft zu erhalten. Sozialwohnungen werden teilweise schon formal erst nach mehrjährigem Aufenthalt und im Übrigen aufgrund langer Wartelisten vergeben.
34 Zwar gibt es in Italien für obdachlose Personen teilweise Notschlafunterkünfte, die von den Gemeinden bereitgestellt werden. Diese Einrichtungen sind jedoch nur in der Nacht geöffnet, normalerweise ab 22 oder 23 Uhr, und müssen früh morgens wieder verlassen werden. Diese Plätze können nicht reserviert werden, sie werden der Reihe nach vergeben. Sie sind auch für italienische Obdachlose zugänglich, es gibt keine spezifisch für Begünstigte von internationalem Schutz reservierte Plätze (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 2). Die Zahl der Plätze in Notunterkünften hat sich im Zuge der COVID-19-Pandemie halbiert (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a.a.O.–). Obdachlosigkeit und der in diesem Zusammenhang verweigerte Zugang zu sonstigen staatlichen Leistungen wie der Bereitstellung von Mahlzeiten (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 3) würden zu physischer und psychischer Verelendung des Klägers führen.
35 Eine drohende Obdachlosigkeit stünde auch dem Zugang zum Asylverfahren entgegen, weil die Polizeidienststellen häufig den Nachweis einer örtlichen Wohnung verlangen und Personen, die vom öffentlichen Aufnahmesystem ausgeschlossen sind, schon an der Antragstellung gehindert werden (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a. a. O. –).
36 Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Kläger in der Lage sein würde, seinen Lebensunterhalt einschließlich der Kosten für eine Unterkunft durch Erwerbsarbeit zu erwirtschaften. Nach der Einschätzung der Schweizer Flüchtlingshilfe ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus weiterhin äußerst schwierig, eine auskömmliche Arbeit zu finden. Die wenigen Arbeitsplätze außerhalb des Schwarzmarkts sind schlecht bezahlt und befristet, der Lohn genügt in der Regel nicht, um eine Unterkunft zu bezahlen (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O). [...]
37 Selbst wenn der Kläger in der Lage wäre, seinen elementaren Lebensunterhalt im informellen Sektor zu decken, stünde der Beschaffung einer eigenen Unterkunft weiterhin entgegen, dass die meisten Vermieter die Vorlage eines Arbeitsvertrages und, wie auch die meistern Arbeitgeber, eines gültigen Aufenthaltstitels fordern, weil die Vermietung oder Beschäftigung sog. illegaler Ausländer strafbewehrt ist. [...]