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VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 09.11.2022 - 1 K 572/21 - asyl.net: M31193
https://www.asyl.net/rsdb/m31193
Leitsatz:

"Anerkannter" Familie mit Kleinkindern droht in Rumänien unmenschliche Behandlung:

1. Einer Familie mit vier Kindern, zwei davon Kleinkinder, die in Rumänien vor ihrer Ausreise bereits an einem staatlichen Integrationsprogramm teilgenommen hat, droht bei ihrer Rückkehr Obdachlosigkeit und damit eine unmenschliche Behandlung entgegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GR-Charta.

2. Haben anerkannte Flüchtlinge in Rumänien vor ihrer Ausreise am staatlichen Integrationsprogramm teilgenommen, sind sie bei ihrer Rückkehr von diesem ausgeschlossen und werden grundsätzlich nicht mehr in einem der Regionalzentren untergebracht.

3. Der Zugang international Schutzberechtigter zum Arbeitsmarkt ist in Rumänien problematisch. Gründe sind der Mangel an Arbeitsplätzen, niedrige Löhne, Sprachbarrieren, die fehlenden Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse sowie der verbreitete Widerwillen, Geflüchtete anzustellen.

4. Bei Kindern müssen die Aufnahmebedingungen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierender Wirkung entsteht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EGMR, Urteil vom 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel gg. die Schweiz) (ASYLMAGAZIN 12/2014, S. 424 f.) - asyl.net: M22411)

Schlagwörter: Rumänien, internationaler Schutz in EU-Staat, Obdachlosigkeit, Kindeswohl, Kleinkind, Unterbringung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Integrationsprogramm, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Zugang zum Arbeitsmarkt, Kinder,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, RL 2013/22/EU Art. 21,
Auszüge:

[...]

Die Ablehnung der Asylanträge der Kläger durfte nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Ein Asylantrag ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Die Kläger haben in Rumänien laut des Eurodac-Treffers vom 23.11.2020 internationalen Schutz erhalten. Es sprechen jedoch erhebliche Grande dafür, dass sie bei einer Rückkehr nach Rumänien Lebensumstände erwarten, die einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) gleichkommen. In diesem Fall ist die Ablehnung eines Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht möglich. [...]

Bei der Prognose der bei einer Rückkehr nach Rumänien drohenden Gefahren ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 1. und 2. gemeinsam mit ihren vier Kindern nach Rumänien zurückkehren. [...]

Den Klägern droht nach ihrer Rücküberstellung nach Rumänien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein von ihrem Willen unabhängiger Zustand der Verelendung in Form der Obdachlosigkeit. [...] Es ist nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters davon auszugehen, dass es den Klägern zu 1. und 2. bei einer Rückkehr nicht gelingen wird, ihre Grundversorgung zu gewährleisten, insbesondere nach ihrer Rückkehr eine Unterkunft zu finden. Es droht eine jedenfalls vorübergehende nicht familien- und kindgerechte Unterbringung oder gar eine Obdachlosigkeit der Familie. Dabei ist die besondere Schutzbedürftigkeit der Kleinkinder (vgl. Art. 21 der Richtlinie 2013/22/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) zu berücksichtigen. Kinder haben besondere Bedürfnisse wegen ihres Alters und ihrer Abhängigkeit und sind extrem verwundbar. Die Aufnahmebedingungen müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht (EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) - NVwZ 2015, 127, 129, 131). [...]

a. Unabhängig von der konkreten Auslastung der grundsätzlich für anerkannte Schutzberechtigte zur Verfügung stehenden Regionalzentren ist eine Unterbringung der Kläger in einer solchen Einrichtung bereits deshalb ausgeschlossen, weil ein Zugang nur im Rahmen der Teilnahme am staatlichen Integrationsprogramm möglich ist (vgl. AIDA, Country Report Romania - 2021 Update, S. 171 f.). [...]

2). Die Kläger haben nach den glaubhaften Ausführungen des Klägers zu 1. im Rahmen der mündlichen Verhandlung bereits an dem staatlichen Integrationsprogramm teilgenommen, indem sie im ersten Jahr eine Wohnung bezahlt bekamen und an Sprachkursen teilnehmen durften. Wenn eine Person bereits vor der Weiterreise an einem Integrationsprogramm teilgenommen hat und dieses dann verlassen hat, so wird sie aus dem Programm ausgeschlossen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft an das OVG NRW vom 20.07.2022, S. 1). [...]

Als einzige Ausnahme besteht für besonders schutzbedürftige Personen - unbegleitete Minderjährige, Personen mit Behinderung, schwangere Frauen, Opfer von Menschenhandel oder Alleinerziehende mit noch nicht erwachsenen Kindern - nach Art. 34 Abs. 2 und Abs. 3 der Eilverordnung der Regierung Nr. 44/2004 zusätzlich die Möglichkeit, unabhängig von einer Teilnahme am Integrationsprogramm bis zur Feststellung der Beendigung dieser besonderen Schutzgründe kostenlos in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht zu werden (vgl. AIDA, Country Report Romania - 2021 Update, S. 171). Die Kläger sind als Familie mit mehreren Kindern nicht von dieser Regelung umfasst.

Ein zeitnaher Zugang der Kläger zu einer Sozialwohnung, auf die anerkannte Schutzberechtigte gemäß Art 20 Abs. 1 des rumänischen Asylgesetzes wie rumänische Staatsangehörige ein Recht haben, erscheint ebenfalls nicht wahrscheinlich. [...]

Darüber hinaus erhalten die Kläger laut den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln außer der grundsätzlichen Sozialhilfe keine finanzielle Unterstützung für die Bezahlung einer Mietwohnung. Die Sozialhilfe beträgt für eine fünfköpfige Familie 592,36 Lei im Monat (ca. 121 Euro) und reicht alleine nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts aus (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, Juli 2022, S. 35f.; vgl. auch VG Köln, Beschl. v. 30.11.2020 - 20 L 1980/20.A -, juris Rn. 18). [...]

b. Dass es den Klägern zu 1. und 2. im Falle einer Rückkehr nach Rumänien gelingen wird, das für ihren und den Unterhalt ihrer Kinder Erforderliche selbstständig durch eine Erwerbstätigkeit zu sichern, kann derzeit ebenfalls nicht ohne Weiteres angenommen werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Anmietung einer Mietwohnung. [...]

Personen mit internationalem Schutz genießen zwar hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt grundsätzlich dieselben Rechte wie rumänische Staatsbürger. In der Praxis werden aber Zugangsprobleme zum Arbeitsmarkt berichtet (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 11). Der Zugang stößt in der Praxis infolge des Mangels an Arbeitsplätzen, niedrigen Löhnen, Sprachbarrieren und Problemen bei der Anerkennung ausländischer Universitäts- oder Berufsabschlüsse auf erhebliche Schwierigkeiten mit der Folge von Arbeitslosigkeit oder irregulären Arbeitsverhältnissen. Einen legalen Arbeitsvertrag zu erhalten ist schwierig, u.a. aus steuerlichen Erwägungen, aber auch aufgrund des Widerwillens von Arbeitgebern, Flüchtlinge anzustellen [...].