VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 19.10.2022 - 3 A 321/20 HAL (Asylmagazin 3/2023, S. 62 ff.) - asyl.net: M31198
https://www.asyl.net/rsdb/m31198
Leitsatz:

Zulässiger Folgeantrag wegen zunehmender politischer Verfolgung im Iran:

1. Das Auswärtige Amt geht in seinem Lagebericht von 2021 davon aus, dass iranische Staatsangehörige, die sich im Ausland regimekritisch äußern, von Repression bedroht sind. Dabei handelt es sich um eine gegenüber dem Lagebericht 2019 veränderte Auskunftslage. Laut Auswärtigem Amt hat die Repression gegen im Ausland lebende iranische Staatsangehörige zugenommen und es kommt vermehrt zu Festnahmen bei der Rückkehr in den Iran.

2. Nach den neuesten Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist nicht auszuschließen, dass bereits die passive Mitgliedschaft oder die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen genügt, um eine Person in den Augen der iranischen Behörden als regimekritisch erscheinen zu lassen. Bei einfachen Mitgliedern und untergeordneten Tätigkeiten für oppositionelle Gruppen muss für die Begründung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit jedoch hinzutreten, dass die Person derart an die Öffentlichkeit getreten ist, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von den iranischen Behörden erkannt und identifiziert worden ist.

3. Trägt eine Person substantiiert vor, exilpolitisch tätig gewesen zu sein, ist im Hinblick auf die veränderte Auskunftslage von einer veränderten Sachlage gemäß § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG auszugehen und ein erneutes Asylverfahren durchzuführen.

4. Bei Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags ist § 28 Abs. 2 AsylG nicht zu beachten. Danach kann die Flüchtlingseigenschaft im Folgeverfahren regelmäßig nicht wegen selbst geschaffener Umstände (subjektiver Nachfluchtgründe) zuerkannt werden. Diese Frage wird erst im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des Asylantrags relevant. Im Übrigen handelt es sich bei der veränderten Sachlage im Iran nicht um einen subjektiven Nachfluchtgrund.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Ansbach, Urteil vom 08.09.2022 - AN 4 K 17.34396 (Asylmagazin 12/2022, S. 397) - asyl.net: M31008)

Schlagwörter: Iran, Exilpolitik, Konvertiten, Asylfolgeantrag, politische Verfolgung, Geheimdienst, Überwachung, Demonstration, subjektive Nachfluchtgründe, Nachfluchtgründe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage hat sich aufgrund einer geänderten Erkenntnislage zur Bedrohungssituation von Rückkehrern und der von dem Kläger im Folgeverfahren substantiiert vorgetragenen exilpolitischen Betätigung im Sinne des § 71 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nachträglich zu seinen Gunsten geändert, so dass für den Kläger ein (weiteres) Asylverfahren durchzuführen ist.

aa) Ein Asylantrag ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Gemäß § 71 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. [...]

bb) Gemessen hieran hält es die Einzelrichterin jedenfalls im Sinne des § 51 VwVfG für möglich, dass die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") veranlassen könnten, ihm gegenüber eine individuelle und rechtsstaatswidrige (Straf-)Verfolgung einzuleiten und damit eine asyl- bzw. flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung begründen könnten.

Dabei ist aktuell von folgender Erkenntnislage im Iran auszugehen: Das Auswärtige Amt berichtet, dass bereits die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen könne (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran – im Folgenden: AA-Bericht – vom 5. Februar 2021, Seite 10). Im Ausland lebende Iraner, die sich dort öffentlich regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht, nicht nur wenn sie in den Iran zurückkehren (vgl. AA-Bericht vom 5. Februar 2021, S. 19). Insoweit hat das Auswärtige Amt die Formulierung gegenüber dem Lagebericht von 2019 geändert, wo es noch hieß: "Rückkehrer können bedroht sein." Hierzu erklärte das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 29. November 2021 an das Verwaltungsgericht Oldenburg, hierbei handele es sich nicht um eine redaktionelle Änderung. Hintergrund sei vielmehr eine Zunahme von Repressionen gegen im Exil lebende Iraner gewesen. So seien Journalisten bei Medien wie BBC Farsi in London von den iranischen Diensten sogar im Ausland bedroht worden. [...] Außerdem seien vermehrt Festnahmen von Iranern, u.a. auch Doppelstaatern, beobachtet worden, die nach ihrer Rückkehr verhaftet worden seien. Das Auswärtige Amt gehe davon aus, dass exilpolitische Aktivitäten von Iranern im Ausland im Internet überwacht würden. Das Auswärtige Amt könne nicht ausschließen, dass auch Personen, die keine hohe Sichtbarkeit als Aktivist habe, bei einer Rückkehr für ihre politischen Aktivitäten verhaftet werden (vgl. Stellungnahme AA an VG Oldenburg vom 29. November 2021, Bl. 127 ff. GA). Auch nach Erkenntnissen von Amnesty International werden exilpolitische Demonstrationen häufig von Angehörigen der iranischen Botschaft beobachtet und dokumentiert. Insbesondere seit den auf die Präsidentschaftswahl im Jahr 2009 folgenden Proteste gebe es immer mehr Berichte über Einschüchterungen und Bedrohung von im Ausland lebenden Iranern (vgl. Amnesty International, Auskunft an das Sächsische Oberverwaltungsgericht vom 18. Juni 2012, S. 1 f.). Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt im Verfassungsschutzbericht 2020 die Aktivitäten des iranischen zivilen In- und Auslandsnachrichtendienstes MOIS (Ministerium für Information und Sicherheit) in Deutschland. Danach ist dessen Kernaufgabe die Ausspähung und Bekämpfung oppositioneller Bewegungen im In- und Ausland (vgl. Verfassungsschutzbericht 2020, S. 354). Der Druck auf unabhängige Stimmen und die Überwachung wurde auch auf Personen außerhalb Irans ausgeweitet. Im Exil lebende Iranerinnen und Iraner berichten, dass ihr Angehörigen im Iran verhaftet worden seien in dem offensichtlichen Versuch, ihre im Ausland lebenden Verwandten von politischen Aktivitäten und ihrem Einsatz für die Menschenrechte abzubringen (vgl. Amnesty International, S. 2).

Ob eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Aktivität für regimekritische Gruppen und Vereine sowie exilpolitisches Engagement vorliegt, ist nach den konkret-individuellen Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen. Ab welcher Intensität der politischen Aktivitäten es zu Verfolgungshandlungen kommt, lässt sich dabei nicht allgemeingültig beantworten. Nach den neuen Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist nicht auszuschließen, dass bereits die passive Mitgliedschaft oder die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen genügt, um eine Person in den Augen der iranischen Behörden als Regimekritiker erscheinen zu lassen. Es erscheint damit bereits möglich, dass die iranischen Behörden - soweit ihnen dies bekannt wird - jede Person, die an Veranstaltungen der iranischen (Exil-)Opposition teilnimmt, als möglichen Regimekritiker ansehen und verfolgen. Bei einfachen Mitgliedern und untergeordneten Tätigkeiten für (exil-)oppositionelle Gruppen muss für die Begründung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit allerdings hinzutreten, dass diese Mitglieder oder Personen erkennbar und identifizierbar derart in die Öffentlichkeit getreten sind, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von den iranischen Behörden und Sicherheitskräften erkannt und identifiziert worden sind (vgl. noch zur früheren Erkenntnislage: OVG Bautzen, Urteil vom 12. Oktober 2021 – 2 A 88.20.A – juris Rn. 30 m.w.N.). [...]

Jedenfalls vor dem Hintergrund der geänderten Auskunftslage im Hinblick auf exilpolitische Aktivitäten von Iranern im Ausland ist eine Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anzunehmen, weil der Kläger substantiiert und glaubhaft dargelegt hat, in den letzten Jahren exilpolitisch aktiv gewesen zu sein. Da das Auswärtige Amt seit seinem Asylbericht Stand Februar 2020 von einer Bedrohung von zurückkehrenden Iranern ausgeht, die sich im Ausland regimekritisch äußerten, kann der Kläger sich auf die Möglichkeit einer für ihn günstigeren Entscheidung berufen. Denn das Auswärtige Amt geht inzwischen – anders als noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erstantrag des Klägers – davon aus, dass Iraner, die sich im Ausland öffentlich regimekritisch äußern, von Repressionen bedroht sind und kann nicht ausschließen, dass auch Personen, die keine hohe Sichtbarkeit als Aktivist haben, bei einer Rückkehr für ihre politischen Aktivitäten verhaftet werden. [...]

§ 28 Abs. 2 AsylG steht dem nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. Die Regelung des § 28 Abs. 2 AsylG dürfte – anders als im Beschluss der Kammer vom 18. September 2020 im Verfahren 3 B 328/20 HAL angenommen – nicht Voraussetzung für das Wiederaufgreifen des Verfahrens sein. Die Vorschrift dürfte erst zum Tragen kommen, wenn ein Asylfolgeantrag die Hürden des § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG genommen hat und ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird. Bei der Prüfung, ob ein Folgeantrag zulässig ist, dürfte § 28 Abs. 2 AsylG keine Rolle spielen. Die asylrechtliche Irrelevanz von subjektiven Nachfluchtgründen dürfte nicht als Grund für die Verweigerung der Durchführung eines Folgeverfahrens herangezogen werden können (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 6. Juni 2017 – W 8 S 17.32379 – juris Rn. 21 m.w.N.). Im Übrigen steht § 28 Abs. 2 AsylG der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch deshalb nicht entgegen, weil die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 a.E. AsylG im konkreten Einzelfall widerlegt werden kann. Denn die Änderung der Auskunftslage zur Bedrohungssituation von Rückkehrern stellt keinen Umstand dar, den der Kläger selbst geschaffen hat. [...]