VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 09.12.2022 - 5 K 405/19.A - asyl.net: M31229
https://www.asyl.net/rsdb/m31229
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Belutschen aus dem Iran wegen exilpolitischen Engagements:

1. Personen, die öffentlich Kritik an Missständen im Iran üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, sind der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt.

2. Eine exilpolitische Betätigung ist hinsichtlich des Iran auch weiterhin nur dann asylrechtlich relevant, wenn sie das exponierte Auftreten für eine regimefeindliche Organisation umfasst. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten die betroffene Person aus der Masse der mit dem Regime Unzufriedenen heraushebt und sie als ernsthafte und gefährliche Regimegegner*in erscheinen lassen.

3. Einer Person, die herausgehoben und öffentlich für die im Iran verbotene "Balochistan People's Party" (BPP) exilpolitisch tätig ist, droht Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Belutschen, Sistan und Belutschistan, Belutschistan, Exilpolitik, politische Verfolgung, Geheimdienst, Demonstrationen, Soziale Medien,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Der am ... 1988 in … in der Provinz Sistan und Belutschistan/Iran geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger vom Volk der Belutschen mit Religionszugehörigkeit zum Islam sunnitischer Ausprägung. [...]

Nach den Erkenntnissen des Gerichts sind im Iran Personen, die öffentlich Kritik an Missständen üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt. Gegen die politische Opposition werden immer wieder drakonische Strafen aufgrund weitgefasster und diffuser Straftatbestände ("regimefeindliche Propaganda", "Beleidigung des Obersten Führers" etc.) verhängt. [...]

Die ohnehin angespannte Sicherheitslage im Iran eskaliert, seitdem am 18. September 2022 die junge Kurdin Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei unter ungeklärten Umständen im Polizeigewahrsam ums Leben gekommen ist. In der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen kommt es seitdem zu fortdauernden Protesten und heftigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen dabei gewaltsam und mit aller Härte gegen Demonstrierende vor, es gibt zahlreiche Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es tausendfach zu willkürlichen Verhaftungen. Das Regime hat im Zusammenhang mit den systemkritischen Protesten im Land bereits Hunderte Menschen zu Freiheitsstrafen und mehrere Menschen zum Tode verurteilt. Am Vortag der mündlichen Verhandlung wurde ein erster Demonstrant hingerichtet. [...]

Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen hat vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen mit Erlass vom 3. November 2022 gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG mit sofortiger Wirkung und befristet bis zum 7. Januar 2023 Abschiebungen nach Iran aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen ausgesetzt.

Dass angesichts der beschriebenen Situation in Iran auch für die Zeit nach dem Auslaufen der Befristung dieses Erlasses und etwaiger Nachfolgeregelungen und damit auch für die Zeit nach dem Wegfall eines auf der Grundlage der Annahme einer allgemeinen Gefahr i.S.d. §§ 60 Abs. 7 Satz 6, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG politisch entschiedenen Abschiebestopps nunmehr von einer Rückkehrgefahr für alle iranischen Staatsangehörigen unabhängig von einem besonderen Verfolgungsprofil auszugehen ist, ist der aktuellen Erkenntnislage jedoch nicht zu entnehmen. Im Fokus der Sicherheitskräfte stehen aktuell offenbar vielmehr die Teilnehmer an den Protestveranstaltungen und Demonstrationen in Teheran und in den iranischen, vor allem den kurdischen Provinzen. Es ist nach der Erkenntnislage zwar auch davon auszugehen, dass das iranische Regime die Auslandsaktivitäten der Opposition weiterhin überwacht und dabei gerade diejenigen in den Blick nimmt, die im Ausland in den sozialen Medien protestieren bzw. sich regimekritisch äußern, und grundsätzlich wohl auch diejenigen, die im Ausland an Solidaritäts- und Protestveranstaltungen auf der Straße teilnehmen und sich in dieser Form exilpolitisch und regimekritisch betätigen. Dabei wird das iranische Regime die politischen Gegner, die es identifizieren kann und derer es habhaft werden kann, nach der Erkenntnislage wie zuvor bereits auch mit aller Härte bestrafen. Gleichwohl ist angesichts des Umstands, dass dieses Protestverhalten aktuell massenhaft auftritt, [...] nicht davon auszugehen, dass jeder iranische Staatsangehörige, der sich im Ausland exilpolitisch aktiv zeigt, für den iranischen Staat bzw. seinen Geheimdienst überhaupt identifizierbar ist bzw. von diesem tatsächlich identifiziert wird. Es ist deshalb auch unter Zugrundelegung der aktuellen Entwicklungen vorerst weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner (exil-)politischen Aktivitäten von den iranischen Behörden als Regimegegner erkannt wird und im Fall einer Rückkehr deswegen in Gefahr geraten könnte. [...]

Eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen ist asylrechtlich danach weiterhin (nur) dann relevant, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise für eine regimefeindliche Organisation erfolgten Auftreten besteht. Dabei lässt sich die Frage, welche Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen. [...]

Der Kläger hat die Gründe für sein Engagement für die BPP sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar mit den von ihm als sehr schlecht wahrgenommenen Lebensverhältnissen der Belutschen begründet.  [...]

Bei der Balochistan People's Party (BPP) handelt es sich nach den Erkenntnissen der Kammer um eine vor allem aus dem Exil agierende Partei mit Sitz in Stockholm/Schweden, deren Ziel es ist, gewaltfrei und friedlich nationale Selbstbestimmung und Souveränität für das Volk der Belutschen zu erlangen. Sie setzt sich für die Schaffung eines belutschischen Bundesstaates in einer föderalen demokratischen Republik Iran ein und strebt ein liberales demokratisches System an, das auf politischem Pluralismus, Säkularismus und sozialer Wohlfahrt ohne Diskriminierung beruht. [...]

Der Kläger hat durch Vorlage zahlreicher Dokumente belegt, dass er seit seiner Ankunft in Deutschland ein äußerst aktives Mitglied der deutschen Sektion der BPP ist und ... eine herausgehobene Stellung einnimmt, die es als wahrscheinlich erscheinen lässt, dass er vom iranischen Geheimdienst identifiziert worden ist. Der Kläger hat mit der eingereichten Dokumentensammlung nachgewiesen, dass er seit 2019 an Veranstaltungen der Partei, Demonstrationen und Protestkundgebungen teilnimmt .... Die Teilnahme des Klägers an Veranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen der BPP in den vergangenen Jahren sowie zuletzt gehäuft aufgrund der aktuellen Verhältnisse im Iran ist auch auf zahlreichen Videos und Fotografien ... zu sehen. [...]

Die von dem Kläger gezeigten Aktivitäten haben zur Überzeugung der Kammer zwischenzeitlich eine Qualität erreicht, die ihn aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen heraushebt und es naheliegend erscheinen lässt, dass die politischen Aktivitäten des Klägers dem iranischen Staat bekannt geworden sind, er identifiziert worden ist und als ein ernstzunehmender Regimekritiker angesehen wird. Angesichts der oben geschilderten Erkenntnislage und der aktuell weiter eskalierenden Situation im Iran, insbesondere auch in der Provinz Sistan und Belutschistan, erscheint die Furcht des Klägers vor Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran daher begründet. [...]