VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Gerichtsbescheid vom 21.12.2022 - 11 K 2074/22.A - asyl.net: M31264
https://www.asyl.net/rsdb/m31264
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen systemischer Mängel in Litauen:

Die Regelungen des litauischen Ausländergesetzes, wonach Asylanträge illegal eingereister Personen unzulässig sind und sie wegen illegaler Einreise inhaftiert werden können, verstößt gegen Unionsrecht und begründet die Annahme systemischer Mängel im litauischen Asylsystem.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 30.06.2022 - C-72/22 PPU M.A. gg. Litauen - asyl.net: M30839; siehe auch: VG Hannover, Beschluss vom 23.02.2022 - 12 B 6475/21 - asyl.net: M30510; anderer Ansicht: VG Saarland, Beschluss vom 29.12.2022 - 5 L 1059/22 - asyl.net: M31244)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Litauen, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, Unzulässigkeit, Litauisches Ausländergesetz, Notlage, EuGH, Haft, unerlaubte Einreise,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Der Rechtmäßigkeit des Bescheides steht jedoch die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO entgegen. [...]

Gemessen hieran ist jedenfalls derzeit davon auszugehen, dass das litauische Asyl.- und Aufnahmesystem an gravierenden Mängeln leidet, die geeignet sind, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu entkräften. Seit Juli 2021 kam es in Litauen zu einem unerwarteten Massenzustrom von Flüchtlingen über die weissrussisch-litauische Grenze. Als Reaktion hierauf verabschiedete der litauische Gesetzgeber ein Gesetzespaket zur Änderung des Asylverfahrens, welches erhebliche Beschneidungen der Rechte von Asylsuchenden herbeiführte. So sieht unter anderem Art. 140 Abs. 1, Abs. 2 des Litauischen Ausländergesetzes (LitAuslG) im Falle der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern vor, dass der Asylantrag eines illegal in Litauen eingereisten Ausländers unzulässig ist und deswegen von den litauischen Behörden gar nicht erst entgegengenommen wird. Ausnahmen sieht das Gesetz nur für vulnerable Personen oder bei individuellen Besonderheiten vor. Gemäß Art. 140 LitAuslG kann ein Ausländer darüber hinaus bei Geltung der Notlage in Haft genommen werden, wenn er die litauische Grenze illegal überquert hat.

Mit Urteil vom 30. Juni 2022 – C 72/22 –, veröffentlicht u.a. in juris, hat der Europäische Gerichtshof in einem Eilvorabentscheidungsersuchen des Obersten Verwaltungsgerichts von Litauen die Unvereinbarkeit der Notstandsregelungen des litauischen Ausländergesetzes mit europäischem Recht festgestellt. Bislang hat der litauische Gesetzgeber die europarechtswidrigen Regelungen des litauischen Ausländergesetzes jedoch nicht aufgehoben und den Ausnahmezustand weiter verlängert. Es kann nicht schon aufgrund des allgemeinen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens davon ausgegangen werden, dass diese Regelungen von den Behörden nicht weiter angewandt werden, da seitens der litauischen Regierung auch weiterhin an den bisherigen Regelungen festhalten will. [...]

Nach alledem muss jedenfalls bis zu einer Änderung des Art. 140 des LitAuslG davon ausgegangen werden, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bezüglich Litauens widerlegt ist. [...]