VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 06.01.2023 - 10 K 803/22.A - asyl.net: M31265
https://www.asyl.net/rsdb/m31265
Leitsatz:

Keine Unzulässigkeitsentscheidung gegenüber in Bulgarien anerkannter Familie mit Kleinkindern:

Mit einem tagsüber betreuungsbedürftigen Kleinkind ist die Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit in Bulgarien derart geschmälert, dass eine ausreichende Existenzsicherung aller Familienmitglieder nicht anzunehmen ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 - 3 B 33/19 - berlin.de)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Kinder, Kinderbetreuung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die Klagen sind zudem begründet: Die angefochtenen Bundesamtsbescheide erweisen sich [...] als rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil entgegen der auf erwerbsfähige Einzelpersonen bezogenen Argumentation des Bundesamts in den angegriffenen Bescheiden davon auszugehen ist, dass für Personen in der Lage der Kläger in Bulgarien keine unionsrechtsgerechten Aufnahmebedingungen gegeben, sondern jene dort systemisch defizitär sind; deshalb dürfen die Asylanträge der Kläger trotz bereits in Bulgarien für die Kläger zu 1. und 2. gewährten internationalen Schutzes nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. [...]

Bei alledem schließt sich das Gericht - in ständiger Rechtsprechung - den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg in dessen Entscheidungen vom 22. September 2020 (3 B 33/19 - juris Rn. 43 ff.) und vom 4. Januar 2021 (3 N 42/20 - juris Rn. 10, 13) an, die nach Maßgabe aller bei Schluss der mündlichen Verhandlung zu Tage liegenden Umstände (§ 77 Abs. 1 AsylG) nach wie vor zutreffen und wonach in Fällen der vorliegenden Art von der Situation einer im Familienverbund nach Bulgarien zurückkehrenden Personenmehrheit auszugehen und entscheidend ist, ob bei dieser Rückkehrsituation im Familienverband die Gefahr einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh deshalb nicht besteht, weil den arbeitsfähigen Mitgliedern des Familienverbands die Existenzsicherung aller Familienmitglieder anzusinnen ist. Dabei geht - auch - das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass eine ausreichende Existenzsicherung in Bulgarien im Falle mehrerer betreuungsbedürftiger (Klein-) Kinder nur anzunehmen ist, wenn beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgehen können (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 - 3 B 33/19 - juris Rn. 47).

Diese Voraussetzungen einer zumutbaren Existenzsicherung in Bulgarien liegen im Fall des als Familienverband zu betrachtenden Kläger deshalb nicht vor, weil zwar der inzwischen 6-jährige Kläger zu 3. in Bulgarien schulpflichtig ist und deshalb in zeitlicher Hinsicht nur eingeschränkter Betreuung durch den einen Elternteil bedarf, während es dem anderen Elternteil angesonnen werden kann, den Lebensunterhalt zu sichern; freilich unterliegt die gerade 3-jährige Klägerin zu 4. noch keiner Schulpflicht, so dass sie - bis auf die nach Lage der Dinge nur mühsam erreichbare Kindergartenbetreuung - tagsüber betreuungsbedürftig ist, was folglich für einen der beiden Elternteile die Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit so sehr schmälert, dass die Existenzsicherung aller vier Familienmitglieder prekär zu werden droht. [...]