VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 25.01.2023 - 1 L 34/23.A - asyl.net: M31278
https://www.asyl.net/rsdb/m31278
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Ablehnung als offensichtlich unbegründet wegen drohender Art. 3 EMRK Verletzung in Venezuela:

Aufgrund der humanitären Lage in Venezuela und der individuellen Umständen der Antragstellerin (hier: kein Zugang zu CLAP-Kisten oder anderer Boni mangels Ausstellung eines Vaterlandsausweises) ist von einer besonderen Gefährdungslage auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Existenzminimum, Existenzgrundlage, vorläufiger Rechtsschutz, Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art.4, AufenthG § 60 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Die Erkenntnisse zur humanitären Situation in Venezuela geben im Falle der Antragstellerin Anlass zu der Annahme, dass aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in Venezuela ihr infolge der Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK droht. [...]

Die wichtigsten sozialen Programme seien laut der Umfrage im Untersuchungszeitraum insbesondere monetäre Zahlungen (regelmäßige und unregelmäßige Boni) über das Patria-System sowie die Verteilung der sogenannten CLAP-Kisten mit subventionierten Lebensmitteln gewesen. Jedoch erhielten nur 35 % diese Kisten regelmäßig im in der Regel vorgesehenen monatlichen Turnus, fast 10 % nie. [...] Bei rund 80 % der Haushalte ist weiterhin eine Ernährungsunsicherheit gegeben. Ohne den Bezug von CLAP-Kisten und Boni, die bekanntermaßen an die Ausstellung eines Vaterlandsausweises gebunden sind, ist von einer besonderen Gefährdungslage dieser Haushalte auszugehen (vgl. Bertelsmann Stiftung's Transformation Index (BTI) 2022, S. 22).

Angesichts der derzeitigen humanitären Bedingungen in Venezuela sprechen aufgrund der individuellen Umstände der Antragstellerin im vorliegenden Fall erhebliche Gründe dafür, dass bei einer Abschiebung der Antragstellerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt, weshalb ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung gegeben sind. [...]

Im Fall der Antragstellerin ist unter Zugrundelegung ihres Vortrags bei der Anhörung am 1.12.2022 zu berücksichtigen, dass sie keinen Zugang zur staatlichen Nahrungsmittelversorgung hat. Die Antragstellerin hat nach Aktenlage plausibel geschildert, dass ihr die Ausstellung einer Anmeldebestätigung sowie eines Vaterlandsausweises mehrfach verweigert worden seien und sie keine CLAP-Kisten erhalten habe. Es ist aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, dass dies insbesondere bei der Opposition zugehörigen oder dieser zugeschriebenen Personen der Fall ist. Ohne eine staatliche Unterstützungsleistung bei der Nahrungsmittelversorgung oder bei der Wohnungssuche ist angesichts der derzeitigen schlechten humanitären Lage in Venezuela eine Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse erheblich erschwert.

Die Antragstellerin verfügt zwar als Abiturientin über eine gute Schulbildung, dies verhilft ihr jedoch auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne weiteres zu einem Vorteil. Nach ihren Angaben ist sie ohne Anmeldebescheinigung daran gehindert, eine reguläre Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen. Auch wenn sie auf Arbeitserfahrung ... zurückgreifen kann, ist nicht mit einer entsprechenden Anstellung in Venezuela zu rechnen. [...]

Da sich die nächsten Verwandten der Antragstellerin im Ausland aufhalten, kann sie auch nicht ohne weiteres auf eine signifikante Unterstützung durch in Venezuela lebende Familienangehörige zurückgreifen. [...] Ohne die Hilfe von in Venezuela lebenden Angehörigen oder anderen belastbaren sozialen Kontakten und ohne staatliche Unterstützung bei Nahrungsbeschaffung und Wohnungssuche ist bei einer Abschiebung der Antragstellerin mit alsbaldiger Verelendung zu rechnen. [...]