VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 13.12.2022 - 6 K 89/21 - asyl.net: M31279
https://www.asyl.net/rsdb/m31279
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für HDP Mitglied aus der Türkei:

1. Allein die Mitgliedschaft in der HDP ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte begründet regelmäßig nicht die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht. Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung besteht grundsätzlich nur bei Personen, bei denen Besonderheiten vorliegen und die deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind. Diese Besonderheiten können etwa die Eintragung in das Fahndungsregister sein, anhängige Ermittlungs- oder Strafverfahren oder die (exil-)politische Betätigung in besonders exponierter Weise.

2. Dem Kläger drohen bei einer Rückkehr in die Türkei im Zusammenhang mit dem gegen ihn anhängigen Gerichtsverfahren schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, HDP, HADEP, politische Verfolgung, Kurden, interne Fluchtalternative, interner Schutz, innerstaatliche Fluchtalternative, Strafverfahren, Terrorverdacht, PKK
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3a, AsylG § 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass allein die Mitgliedschaft in der HDP oder ein niedrigschwelliges Engagement für diese Partei ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte regelmäßig nicht die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht im Verständnis von § 3 Abs. 1 AsylG zu rechtfertigen vermag (vgl. Urteile der Kammer vom 27.01.2022, 6 K 1711/19, und vom 31.07.2019, 6 K 313/18; ebenso etwa OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.05.2016, 3 L 177/15, m.w.N., sowie VG Kassel, Urteil vom 19.04.2021, 5 K 74/19.KS.A, jeweils zitiert nach juris).

Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung besteht vielmehr grundsätzlich nur bei Personen, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder sie sich in besonders exponierter Weise (exil-)politisch betätigt haben und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie als potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer terroristischer Organisationen angesehen werden (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.05.2016, 3 L 177/15, m.w.N, sowie VG Kassel, Urteil vom 19.04.2021, 5 K 7 4/19.KS.A, jeweils zitiert nach juris). [...]

Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ist das Gericht vom oppositionellen Engagement des Klägers überzeugt. Insbesondere überspannt die Beklagte in ihrem Bescheid die Anforderungen an die Gedächtnisleistung des Klägers, als sie im Hinblick auf die teilweise bereits mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Parteiwechsel die Auffassung vertrat, der Kläger sei "nicht in der Lage, ... seine Parteizugehörigkeiten chronologisch und in korrekter Weise darzutun". [...]

Die durch die vorbezeichneten staatlichen Maßnahmen bereits erlittene politische Verfolgung sowie die im Zeitpunkt der Ausreise gegebene Gefahr der Freiheitsentziehung lässt die Furcht des Klägers vor Verfolgung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als begründet erscheinen.

Dem Kläger drohen bei einer Rückkehr in die Türkei zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) im Zusammenhang mit dem gegen ihn anhängigen Gerichtsverfahren wegen "Propaganda für eine Terrororganisation" schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG, insbesondere durch Anwendung physischer Gewalt(§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) sowie diskriminierende polizeiliche und justizielle Maßnahmen (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG). [...]

In diesem Lichte ist für die Türkei nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel davon auszugehen, dass eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen kann, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind oder gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist und die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie als potenzielle Unterstützer der PKK angesehen werden. [...]

In diesem Zusammenhang müssen Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in ein entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind, in der Türkei nach wie vor mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen (Urt. der Kammer v. 19.9.2018, 6 K 1059/17, UA S. 10 f. m.w.N. und v. 3.6.2020, 6 K 996/17). [...]

Nach diesem Maßstab ist der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 AsylG offensichtlich nicht erfüllt. Hierbei ist zum einen zu berücksichtigen, dass das Verfahren gegen den Kläger auf einem konstruierten Tatvorwurf beruht. Zum anderen werden dem Kläger Beiträge bei Facebook vorgeworfen, die nach westlichen Maßstäben der freien Meinungsäußerung unterfallen.

Schließlich kann der Kläger auch nicht auf internen Schutz i.S.d. § 3e AsylG verwiesen werden. Auch wenn sich die Verfolgungssituation in den Krisengebieten im Südosten der Türkei im Vergleich zum Westen des Landes als deutlich virulenter darstellt (so ausdrücklich: Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 24.5.2019, S. 11), ist die im Fall des Klägers drohende Verfolgungshandlung nicht Ausdruck einer - ggf. örtlich begrenzten - allgemeinen und indifferenten Unterdrückungs- und Einschüchterungspolitik gegenüber der örtlichen Bevölkerung, sondern entspringt einem konkret-individuellen Interesse an der Person des Klägers als Regimegegner. Es entspricht aber der allgemeinen Auskunftslage, dass das Interesse der türkischen Behörden an Personen, die konkret-individuell einen Terrorverdacht auf sich gezogen haben, prinzipiell landesweit besteht. [...]