VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 12.08.2022 - 10 ZB 22.1511 - asyl.net: M31289
https://www.asyl.net/rsdb/m31289
Leitsatz:

Ausweisung eines faktischen Inländers:

Eine Ausweisung wegen schwerer Straftaten mit Wiederholungsgefahr ist auch dann möglich, wenn es sich um einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen handelt, der faktischer Inländer und mit einer deutschen Person verheiratet ist, ein deutsches Kind hat und ein weiteres (deutsches) Kind erwartet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausweisung, Körperverletzung, Abschiebung, türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer,
Normen: AufenthG § 53, AufenthG § 54, AufenthG § 55
Auszüge:

[...]

6 a) Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung der Beklagten aufgrund des Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu Recht an den Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen. Es hat seine Annahme, das Verhalten des Klägers stelle eine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, mit der Vielzahl der vom Kläger begangenen, teilweise schweren Straftaten begründet. Dabei ist das Verwaltungsgericht auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens zu Recht davon ausgegangen, dass vom Kläger auch aktuell eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht. [...]

12 b) Auch die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.

13 Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 - 10 B 19.55 - juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 - 46410/99 - NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.

14 Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht zu Recht (und anders als im Zulassungsvorbringen behauptet) angenommen, dass es sich beim Kläger um einen faktischen Inländer und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit Niederlassungserlaubnis handelt, der sich deswegen aber insbesondere auch aufgrund seiner familiären Bindungen zu seiner deutschen Ehefrau und seiner sieben Jahre alten deutschen Tochter auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse berufen kann. Es hat die für die Abwägung von Ausweisungsinteresse und Bleibeinteresse maßgeblichen Gesichtspunkte ermittelt und in die Abwägung eingestellt. Bei der Gesamtabwägung ist es zum Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. [...]