VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 24.11.2022 - A 4 K 2687/22 - asyl.net: M31309
https://www.asyl.net/rsdb/m31309
Leitsatz:

Eltern können drohende Genitalverstümmelung/-beschneidung ihres Kindes in Nigeria verhindern:

1. Sprechen sich Eltern gegen die in ihrer Familie verbreiteten Praxis weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung aus und teilen mit, diese bei ihrer Tochter nicht zulassen zu wollen, ist davon auszugehen, dass sie die Beschneidung verhindern können und ihrer Tochter bei einer Rückkehr nach Nigeria mithin keine solche flüchtlingsrelevante Behandlung droht.

2. Widersetzen sich Eltern der Durchführung einer Beschneidung ihrer Tochter, kommt die zwangsweise Durchführung gegen den Willen der Eltern allenfalls in Einzelfällen vor. Die Familienangehörigen haben aber mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierungen innerhalb ihrer Gemeinschaften zu rechnen.

3. Ferner besteht für Familien in den großen Städten Nigerias regelmäßig die Möglichkeit einer zumutbaren internen Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Freiburg, Urteil vom 19.01.2023 - A 4 K 1443/21 - asyl.net: M31417)

Schlagwörter: Nigeria, Genitalverstümmelung, Existenzgrundlage, FGM, Female Genital Mutilation, Beschneidung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Familienangehörige, Mädchen, Kindeswohl,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

27 Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

29 Eine erstmalige Verfolgung der Klägerin in Nigeria käme allenfalls in Form der befürchteten zwangsweisen Beschneidung / Genitalverstümmelung in Betracht. [...]

31 Dabei geht das Gericht auf Grundlage der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln davon aus, dass die Praxis weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation - FGM) in Nigeria nach wie vor verbreitet ist. Wenngleich die Berichte hinsichtlich der regionalen Prävalenz der Beschneidung sowie hinsichtlich der sie praktizierenden Volksgruppen im Einzelnen differieren, ist anzunehmen, dass es vor allem im Südwesten und Südosten des Landes, aber auch in den weiteren südlichen Regionen und im Nordwesten zu weiblicher Genitalverstümmelung kommt [...]. Übereinstimmend gehen die verfügbaren Quellen davon aus, dass vor allem Mädchen im Alter unter fünf Jahren der Praxis zum Opfer fallen, wobei in manchen Volksstämmen auch Mädchen im Alter über 15 Jahren betroffen sind [...]. Überwiegend wird des Weiteren angenommen, dass die Praxis insgesamt rückläufig ist, wobei landesweit weniger als 20 Prozent der Frauen / Mädchen betroffen sind [...].

33 [...] Die Entscheidung über den Vollzug traditioneller Riten am Kind liegt nach der gegenwärtigen Erkenntnislage maßgeblich in der Hand der Eltern, wobei unterschiedliche ethnische Gruppen die Entscheidungsmacht eher auf väterlicher oder auf mütterlicher Seite ansiedeln; als in dieser Hinsicht zudem einflussreiche Personen werden, abhängig vom Kulturkreis und der Intensität der Einbindung der Familie in das soziale Umfeld, des Weiteren die Großeltern, insbesondere die Großmütter, genannt [...]. Wenn der Vater die Mutter bei ihrer Weigerung, das gemeinsame Kind beschneiden zu lassen, unterstützt, dann können die Eltern dies auch verhindern [...]. Widersetzen sich die Eltern der Durchführung einer Beschneidung ihrer Tochter, kommt die Androhung von Gewalt oder die zwangsweise Durchführung entgegen des Willens der Eltern allenfalls in Einzelfällen vor [...]. Berichten zufolge haben Eltern, insbesondere die Mütter, aber auch die betroffenen Töchter, im Fall einer Verweigerung jedoch mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung innerhalb der Gemeinschaft zu rechnen [...].

34 Dies zugrunde gelegt erscheint es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Nigeria tatsächlich eine Beschneidung droht. Die Eltern der Klägerin haben sich gegenüber dem Bundesamt gegen die Praxis weiblicher Genitalverstümmelung ausgesprochen und mitgeteilt, diese bei ihrer Tochter nicht zulassen zu wollen. Ausgehend hiervon ist anzunehmen, dass die Eltern der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria eine Beschneidung ihrer Tochter verhindern können. Die Eltern der Klägerin vermochten weder gegenüber dem Bundesamt noch gegenüber dem Gericht näher zu konkretisieren, von wem bzw. aus welchem Personenkreis die Beschneidung der Klägerin konkret befürchtet werde bzw. konkret erfolgen könnte. Die Ausführungen des Vaters der Klägerin, wonach der König bzw. der Älteste der Dorfgemeinschaft die Beschneidung einfordern werde, wenn diese erfahren würden, dass seine Tochter bisher nicht beschnitten sei, entbehren jeglicher Grundlage und fußen auf nicht näher belegten Behauptungen. Dies vermag die dargestellte Erkenntnislage auch nicht im Ansatz in Frage zu ziehen.

35 Selbst wenn aber ein wirksamer Druck von familiärer Seite auf die Eltern der Klägerin ausgeübt werden sollte, könnten sie diesem dadurch entgehen, dass sie sich mit der Klägerin in einem anderen Landesteil von Nigeria niederlassen und sich damit dem Einflussbereich von Personen entziehen, die eine Beschneidung einfordern. Diese Möglichkeit internen Schutzes steht gemäß § 3e AsylG selbständig tragend dem geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegen. [...] Es ist den Eltern der Klägerin auch zumutbar, diese innerstaatlichen Ausweichmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Allgemein kann festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person auch dann, wenn sie in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird; sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird [...].

36 Es steht nach alledem für das Gericht fest, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Nigeria eine genitale Verstümmelung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Seitens der insoweit maßgeblich entscheidungsbefugten Eltern hat sie diesbezüglich nichts zu befürchten und ein beachtlicher Einfluss anderer ist nicht zu erkennen. [...]