VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 15.12.2022 - 5 A 3052/20.A - asyl.net: M31321
https://www.asyl.net/rsdb/m31321
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Jamaika:

"Männern, deren Homosexualität bedeutsamer Bestandteil ihrer sexuellen Identität ist, droht gegenwärtig in Jamaika mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure. Homosexuelle Männer haben in Jamaika nicht die Möglichkeit, internen Schutz vor Verfolgung zu erhalten."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: homosexuell, Jamaika, Gruppenverfolgung, LSBTI, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, schwul, soziale Gruppe, Strafbarkeit, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

44 Soweit der Kläger vorträgt, aufgrund einer anlassgeprägten Einzelverfolgung aus Jamaika ausgereist zu sein, kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich Opfer der geschilderten Vorfälle geworden ist.

45 Denn aufgrund der dem Senat vorliegenden sachverständigen Auskünfte ist davon auszugehen, dass jedenfalls eine Gruppenverfolgung homosexueller Männer in Jamaika gegeben ist. [...]

47 Homosexuelle Männer erfüllen in Jamaika das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]

49 Homosexuelle Männer in Jamaika bilden eine abgrenzbare Gruppe, die von der sie umgebenden Gesellschaft als anderweitig wahrgenommen wird (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199/12 - Juris Rn. 41 ff.). Die sexuelle Ausrichtung einer Person ist dabei ein unveränderbares Merkmal, das so bedeutsam für die Identität ist, dass die Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten oder sie geheim zu halten (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199/12-, Juris Rn. 46, 70, 71).

50 Die Furcht des Klägers, bei einer Rückkehr nach Jamaika wegen seiner Homosexualität zum Opfer von Verfolgungshandlungen gemäß § 3a AsylG zu werden, ist auch begründet. [...]

56 Eine relevante Verfolgung homosexueller Männer in Jamaika kommt zunächst bereits deshalb in Betracht, weil Handlungen, durch die die sexuelle Orientierung zum Ausdruck gebracht werden, der Strafverfolgung unterliegen, wobei die entsprechenden Strafvorschriften zumindest vereinzelt zur Anwendung gelangen. [...]

58 Auch J-Flag führt in der durch den Senat eingeholten sachverständigen Stellungnahme vom 8. Juni 2021 aus, dass gemäß dem jamaikanischen Offences Against the Person Act 1864 (Gesetz über gegen Personen gerichtete Straftaten - "OAPA") Analverkehr (Art. 76), definiert als Analsex und versuchter Analverkehr (Art. 77), strafbar sei. Das erstere Vergehen könne mit einer Haftstrafe von bis zu 10 Jahren, einhergehend mit Zwangsarbeit, bestraft werden, und das zweite Vergehen, versuchter Analverkehr, mit einer Haftstrafe von bis zu 7 Jahren mit oder ohne Zwangsarbeit.

59 Zudem würden in Art. 79 des OAPA "grob unsittliche" Handlungen zwischen Männern, sowohl in der Öffentlichkeit als auch im privaten Raum, kriminalisiert. Gemäß diesem Artikel könnten jedwede intimen Handlungen, die im gegenseitigen Einverständnis zwischen Männern stattfänden, einschließlich Küssen, mit einer Haftstrafe von bis zu zwei Jahren, mit oder ohne Zwangsarbeit bestraft werden. [...]

65 Diesbezüglich führt das Verwaltungsgericht zutreffend aus, dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind, noch keine Verfolgungshandlung im Sinne § 3a Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG darstellt.

66 Der Europäische Gerichtshof führt in diesem Zusammenhang zur Beantwortung der Frage, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG dahin auszulegen sei, dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind, eine Verfolgungshandlung darstelle, folgendes aus (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199/12 -, Juris Rn. 50 ff.):

"[...] Daher kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, nicht als Maßnahme betrachtet werden, die den Antragsteller in so erheblicher Weise beeinträchtigt, dass der Grad an Schwere erreicht ist, der erforderlich ist, um diese Strafbarkeit als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie ansehen zu können.

Dagegen kann die Freiheitsstrafe, mit der eine Rechtsvorschrift bewehrt ist, die wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, für sich alleine eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellen, sofern sie im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird. [...]"

67 Einer weitergehenden Sachaufklärung durch den Senat, ob das realistische Risiko der Strafverfolgung besteht und damit eine relevante Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 bzw. des § 3a Abs. 1 AsylG vorliegt, wenn sich die betroffenen Männer öffentlich zu ihrer Sexualität bekennen, bedurfte es jedoch nicht, weil jedenfalls Verfolgungshandlungen nichtstaatlicher Akteure gemäß § 3c Nr. 2 AsylG gegenüber homosexuellen in Jamaika lebenden Männern gegeben sind, die auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.

68 Die Verfolgungsprognose setzt, wird eine Verfolgungsgefahr durch ein willensgesteuertes Verhalten ausgelöst, eine differenzierende und wertende Betrachtung voraus. Dabei ist für die Bestimmung der Verfolgungsdichte nicht die Zahl der registrierten Vorkommnisse in Beziehung zu der Gesamtzahl der homosexuellen Personen in Jamaika zu setzen, sondern es ist auf die Gruppe der ihre Homosexualität in gleicher Weise auslebenden Personen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013, BVerwGE 146, 67-89 = Juris Rn. 41; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juni 2013 - A 11 S 757/13 - Juris Rn. 52; Urteil vom 6. Juli 2022 - A 13 S 733/21 -, Juris Rn. 65).

69 Ausgehend von diesem Maßstab droht Männern, deren Homosexualität bedeutsamer Bestandteil ihrer sexuellen Identität ist, gegenwärtig in Jamaika mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG).

70 Das Auswärtige Amt nimmt in diesem Zusammenhang in seiner sachverständigen Auskunft vom 2. November 2021 (Aktenzeichen 508-21-516.80/55133) wie folgt Stellung:

"Homophobie ist in der jamaikanischen Gesellschaft weit verbreitet. Gemäß einer von der jamaikanischen Nichtregierungsorganisation (NRO) Jamaica Forum of Lesbians, All Sexuals and Gays (J-Flag) in Auftrag gegebenen Umfrage von 2019 betrachten 87 % der Jamaikanerinnen und Jamaikaner Homosexualität als Sünde. Gewalt gegen Homosexuelle wird teilweise mit religiöser Moral gerechtfertigt oder aufgrund dessen toleriert.

Es sind zahlreiche Gewaltverbrechen dokumentiert, denen Personen mutmaßlich wegen ihrer sexuellen Orientierung zum Opfer gefallen sind, darunter auch Tötungsdelikte. [...]

72 J-Flag führt in diesem Zusammenhang in seiner Auskunft vom 8. Juni 2021 aus, dass J-Flag zwischen Januar 2011 und Dezember 2020 383 unbestätigte Berichte über Menschenrechtsverletzungen seitens sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Täter erhalten habe. Zwischen 2019 und Dezember 2020 habe J-Flag 46 derartiger Berichte erhalten. Bei den am häufigsten gemeldeten Fällen in den letzten drei Jahren sei es um verbalen Missbrauch (63 %), körperlichen Missbrauch (57 %), Verstoßung aus dem Haus und/oder der Gemeinschaft (45 %) und Drohungen und oder Einschüchterung (39 %) gekommen. Zudem habe es Fälle von Brandstiftung, Vergewaltigung, sexueller Nötigung und einen Fall gegeben, bei dem eine Person aufgrund der sexuellen Orientierung des Opfers lebendig begraben worden sei. [...]

73 Bei einer von J-Flag im Jahr 2019 durchgeführten Bedürfnisbewertung von mehr als 300 LGBT (lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgeschlechtlichen) Jamaikanern hätten 72 % der Teilnehmer angegeben, irgendwann in ihrem Leben Gewalt erfahren zu haben. [...]

77 Im Hinblick auf die Vielzahl und die Qualität der gegen in Jamaika lebenden Homosexuellen gerichteten dargestellten Übergriffe nicht-staatlicher Akteure, die von Körperverletzungshandlungen bis hin zu Tötungen reichen, ist davon auszugehen, dass diese so weit um sich greifen, dass daraus für jeden in Jamaika lebenden homosexuellen Mann nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Aufgrund der weitverbreiteten gesellschaftlichen Ablehnung von Homosexualität ist davon auszugehen, dass offen homosexuelle Personen und Personen, die nicht der Gendernorm entsprechen, regelmäßig Gefahr laufen, Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden. [...]

78 Allein die geschilderten sexuellen und körperlichen Übergriffe stellen sich ihrer Art nach als derart gravierend dar, dass sie eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründen (vgl. zu den Voraussetzungen auch BVerwG, Urteil vom 21. April 2019 - 10 C 11/08 -, AuAS 2009, 173-175 = Juris Rn. 13).

79 Zudem wird von zahlreichen weiteren Diskriminierungshandlungen berichtet, die sich bei einer Kumulierung ebenfalls als derart gravierend darstellen, dass offen homosexuell lebende Männer in Jamaika hiervon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen sind, so dass auch die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG gegeben sind.

80 Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen ist auch nicht davon auszugehen, dass der jamaikanische Staat ausreichenden Schutz gegen die dargestellten Verfolgungshandlungen nicht-staatlicher Akteure bietet. [...]

93 Auch eine interne Schutzalternative ist nicht gegeben.

94 Denn dem Kläger drohten, auch wenn er sich in einem anderen Landesteil Jamaikas niederlassen würde, bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG. [...]

100 In diesem Zusammenhang ist nicht ersichtlich, dass der Kläger über entsprechende Geldmittel verfügte, die es ihm erlaubten, in einem Landesteil Jamaikas ein sicheres Leben zu führen. [...]

103 Schließlich ist nicht erkennbar, dass der Kläger im Norden Jamaikas vor etwaigen Übergriffen nicht-staatlicher Akteure geschützt wäre. Denn außerhalb der dortigen Hotelanlagen selbst, die möglicherweise noch eine gewisse Anonymität bieten, findet sich ein Wohnumfeld, das ähnlich strukturiert ist wie das der übrigen Landesteile. [...]