OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.02.2023 - 18 B 103/23 (Asylmagazin 4/2023, S. 119 f.) - asyl.net: M31344
https://www.asyl.net/rsdb/m31344
Leitsatz:

Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) gilt nicht als faktische Duldung iSv. § 104c AufenthG:

Mit einer Grenzübertrittbescheinigung oder einer Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (anstelle einer Duldung) werden die Voraussetzungen des § 104c AufenthG (Chancen-Aufenthaltsrecht) nicht erfüllt. Insofern stehen die Anwendungshinweise des Landes Nordrhein-Westfalen nicht mit dem Aufenthaltsgesetz in Einklang.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, Duldung, Grenzübertrittsbescheinigung, Nordrhein-Westfalen, Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, Passeinzugsbescheinigung,
Normen: AufenthG § 104c, GG Art. 19 Abs. 4 GG,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde 18 B 103/23 führt nicht zur Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Die dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, bieten hierfür keinen Anlass. [...]

Unzutreffend ist die Annahme des Antragstellers, ihm stehe nunmehr jedenfalls ein Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG zu. Der Erteilung einer dementsprechenden Aufenthaltserlaubnis steht entgegen, dass der Antragsteller nach den unwidersprochenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss unter dem ... 2020 wegen versuchten Betrugs zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird hingegen vorausgesetzt, dass der Ausländer nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei lediglich Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten grundsätzlich außer Betracht bleiben, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten. Diese Voraussetzung erfüllt der Antragsteller nicht.

Der vorliegende Fall gibt über dessen Streitpunkte hinaus im Hinblick auf zukünftige Verfahren die Gelegenheit, zeitnah zu zwei Regelungen des Erlasses des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI) vom 8. Februar 2023 (AZ 513-26.11.01-000009-2023-001688) zum Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG Stellung zu nehmen.

Mit diesem Erlass erklärt das MKJFGFI die Anwendungshinweise des BMI zum Chancen-Aufenthaltsrecht vom 23. Dezember 2022 mit farblich kenntlich gemachten NRW-spezifischen Ergänzungen für verbindlich anwendbar. Die zu Ziffer 1.3. der Anwendungshinweise des BMI (geduldeter Aufenthalt) erlassenen NRW-spezifischen Ergänzungen bzw. Abweichungen sind mehrdeutig und bei einem durchaus naheliegenden Verständnis gesetzeswidrig bzw. stehen mit den Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes eindeutig nicht in Einklang.

Unter a.) heißt es, "Zum Stichtag 31.10.2022 muss sich eine von § 104c AufenthG begünstigte Person nicht im Besitz einer Duldung befunden haben, um in den Anwendungsbereich des § 104c AufenthG zu gelangen". Diese Aussage ist mehrdeutig. [...]

Sollte mit der in Rede stehenden NRW-spezifischen Ergänzung bzw. Abweichung hingegen gemeint sein, es bedürfe weder einer Duldung noch eines Anspruchs auf eine Duldung, noch einer Gestattung oder einer Aufenthaltserlaubnis, so wäre der Erlass insoweit mit § 104c AufenthG nicht vereinbar.

Nicht vereinbar mit dem Aufenthaltsgesetz ist jedenfalls die NRW-spezifische Ergänzung bzw. Abweichung unter b.) zu Ziffer 1.3 der Anwendungshinweise des BMI. Diese ist wie folgt formuliert: "Sind Betroffene im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, sind sie während dieses Zeitraums als faktisch geduldet im Sinne des § 104c AufenthG anzusehen." Diese Bestimmung verkennt, das nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Ausländer nur dann geduldet ist, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Der Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen reicht insoweit nicht aus. Eine faktische Duldung sieht die Konzeption des Aufenthaltsgesetzes nicht vor und ist auch der Neuregelung des § 104c AufenthG nicht zu entnehmen. [...]