Berufungszulassung zur Frage des ernsthaften Risikos einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta für Dublin-Rückkehrende wegen Push-Backs:
1. Die Frage, ob bei antragstellenden Personen, für die eine Zustimmung des Mitgliedstaates Kroatien zur Wiederaufnahme vorliegt (sogenannte Dublin-Rückkehrende) von einer Rück-Überstellung abzusehen ist, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben, von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und von dort nach Serbien abgeschoben zu werden und ihnen daher aufgrund systemischer Schwachstellen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta drohe, hat grundsätzliche Bedeutung.
2. Das Verwaltungsgericht hat auf Grundlage unzureichender tatsächlicher Erkenntnisse und vor allem unter Anwendung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabs angenommen, dass Dublin-Rückkehrende in Kroatien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt sind und das Asylsystem daher unter systemischen Mängeln leidet.
(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 369 f.) - asyl.net: M30975)
Siehe auch:
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Denn die Beklagte hat den Darlegungsanforderungen nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügend, nämlich unter konkreter Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten und Erkenntnismitteln des Verwaltungsgerichts, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die von ihr aufgeworfene und über den Einzelfall der Kläger hinausgehend allgemein klärungsbedürftige sowie entscheidungserhebliche Frage, „ob bei Antragstellern, für die eine Zustimmung des Mitgliedsstaates Kroatien gem. Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO vorliegt, wegen eines drohenden Verstoßes gegen den in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 19 GR-Charta und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) von einer Rück-Überstellung nach Kroatien gem. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO abzusehen ist, da Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben, von Kroatien ohne Durchführung eines Asylverfahrens nach Bosnien-Herzegowina und von dort aus weiter nach Serbien abgeschoben zu werden und ihnen daher eine Verletzung ihrer Rechte aufgrund systemischer Schwachstellen des Mitgliedsstaates Kroatien aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC drohe, sodass die Beklagte verpflichtet wäre, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO durchzuführen,“ dargelegt. [....]
Denn das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage unzureichender tatsächlicher Erkenntnisse und vor allem unter Anwendung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabs angenommen, dass die Kläger als sogenannte Dublin- Rückkehrer in Kroatien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt sind und das Asylsystem in Kroatien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leidet, die für die Kläger mit der konkreten Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verbunden sein soll.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zu dem in sogenannten Dublin-Verfahren zu beachtenden rechtlichen Maßstab und zu den erforderlichen Tatsachenfeststellungen ausgeführt (Beschlüsse vom 19.1.2022 – 1 B 83.21 –, juris Rn. 12, und vom 7.3.2022 – 1 B 21.22 –, juris Rn. 13): [...]
Diese Vorgaben hat das Verwaltungsgericht nicht hinreichend beachtet. Denn es hat allein aus dem Umstand, dass es zu sogenannten Push-Backs an der kroatischen Grenze bzw. bis zu 50 km von der Grenze entfernt und zu Ketten-Abschiebungen ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina gekommen sei, geschlussfolgert, dass „eine solche Verfahrensweise auch Dublin-Rückkehrern drohen könne und ihnen damit ihr Recht auf ein Asylverfahren in rechtswidriger Weise vorenthalten würde“ bzw. „dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die dargestellten massiven Menschenrechtsverletzungen Dublin-Rückkehrer nicht betreffen“. Dabei stellt das Verwaltungsgericht bzw. das Verwaltungsgericht Braunschweig in der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung fest, dass „keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland“ vorlägen. Gleichwohl nimmt das Verwaltungsgericht – ebenso wie das Verwaltungsgericht Braunschweig – im Hinblick darauf, dass nur wenige Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland dokumentiert seien, nur zwei Aufnahmeeinrichtungen mit insgesamt 700 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stünden, von denen im Dezember 2020 nur 328 Plätze belegt gewesen seien, und auch keine gesicherten Erkenntnisse darüber bestünden, dass Dublin-Rückkehrer gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung erhielten, an, dass das Asylsystem in Kroatien (auch) für Dublin-Rückkehrer erhebliche systemische Schwachstellen aufweise, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten. Insoweit weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass die Situation von aus Deutschland rücküberstellten Dublin-Rückkehrern, zu deren Wiederaufnahme sich Kroatien – wie hier – ausdrücklich bereit erklärt hat, sich deutlich von der Situation von Asylbewerbern unterscheidet, die beispielsweise bei dem Versuch, die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien zu überschreiten, zurückgedrängt worden sind. Vor allem aber hat das Verwaltungsgericht nicht beachtet, dass von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ausgehend die (widerlegliche) Vermutung besteht, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, und deshalb konkrete Erkenntnisse darüber vorliegen müssen, dass der betreffende Mitgliedstaat diese Erfordernisse nicht beachtet, die hier jedoch vom Verwaltungsgericht hinsichtlich Dublin-Rückkehrern nicht angeführt worden sind. [...]