Flüchtlingseigenschaft für aktives Mitglied der YPG aus der Türkei:
1. Die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" nehmen in der Türkei ein Ausmaß an, dass Grundrechte auch in Bereichen zivilgesellschaftlichen Engagements erheblich eingeschränkt sind. Nach dem Putschversuch 2016 hat die türkische Regierung "Säuberungsmaßnahmen" gegen Institutionen und Personen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen sie eine Nähe zur PKK vorwirft. Im Zuge dessen wurde gegen etwa 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet.
2. Mitgliedern der YPG, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, droht in der Türkei Verfolgung.
3. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist für aktive Mitglieder der YPG nicht gemäß § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylG wegen Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufenden, ausgeschlossen. Denn bei der YPG handelt es sich nicht um eine terroristische Organisation.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.05.2022 - 14a K 7600/17.A - asyl.net: M30808)
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Der Kläger kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen [...]
Hiervon ausgehend konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner Aktivitäten für die YPG in Syrien Verfolgung droht. Dies ergibt sich aufgrund der aktuellen Situation in der Türkei.
Das Auswärtige Amt führt aus, dass die türkische Regierung die Sicherheit des Staates auf vielfache Weise gefährdet sieht, u.a. durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete "Arbeiterpartei Kurdistan" (PKK) und die aus türkischer Sicht mit der PKK verbundenen Organisationen, wie die YPG in Syrien (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Juli 2022, Seite). Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" nimmt daher ein sehr hohes Ausmaß ein, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundrechten auch in Bereichen zivilgesellschaftlichen Engagements ohne erkennbaren Terrorbezug. Nach dem Putschversuch 2016 hat die türkische Regierung sog. "Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen eine Nähe zur verbotenen PKK oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden bislang nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen ca. 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. [...]
Hiervon ausgehend steht im zugrundeliegenden Fall zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgungsrechtliche Maßnahmen in Anknüpfung an seine Mitgliedschaft in der YPG drohen.
Daran, dass der Kläger in der Zeit von 2013 bis 2018 Mitglied der YPG in Syrien war, besteht unter Zugrundelegung seiner Schilderungen im Rahmen des Klageverfahrens kein Zweifel. [...]
Schließlich muss auch davon ausgegangen werden, dass der Kläger als Mitglied der YPG in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten ist. Denn wie der Kläger glaubhaft und unter Angabe konkreter Einzelheiten erklärt hat, war er während seiner Zeit bei der YPG auch in den Medien als Sprecher der Organisation aufgetreten. Danach muss aber in jedem Falle angenommen werden, dass die türkischen Sicherheitsbehörden von der YPG-Mitgliedschaft des Klägers auch Kenntnis erlangt haben.
Als Mitglied der YPG besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung für den Kläger, weil die YPG zu den von der türkischen Regierung als terroristisch eingestuften Organisationen zählt. Der YPG wird – wie auch der PYD, der "Partei der demokratischen Union" (Partiya Yekitiya Demokrat) – eine Nähe zur terroristischen PKK nachgesagt (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02. Mai 2022 – 14a K 7600/17.A – juris, Rn. 104f. m.w.N.). Die YPG gilt als bewaffneter Arm der syrischen PYD, die wiederum als Ableger der PKK gilt (vgl. VG Hannover, Urteil vom 20. November 2018 – 13 A 6596/17 – juris, Rn. 32 m.w.N.). Mit einer YPG-Mitgliedschaft geht aus türkischer Sicht grundsätzlich die Annahme eines Terrorismusverdachtes mit Gefährdung der Sicherheit einher (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Juli 2022, S. 4).
Es ist des Weiteren davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Folter droht.
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Das gilt für Abgeschobene oder freiwillig dorthin zurückkehrende Asylbewerber gleichermaßen. Ist eine Person in das Fahndungsregister eingetragen oder ist gegen sie ein Ermittlungsverfahren anhängig, wird sie in Polizeigewahrsam genommen; ist ein Strafverfahren anhängig, wird der Betroffene festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14. Juni 2019). Außerdem interessieren sich die Staatssicherheitskräfte insbesondere für Kurden, deren Asylgesuche abgelehnt und die abgeschoben werden (vgl. OVG Gelsenkirchen, a.a.O., Rn. 81 f. m.w.N.). Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die Grenzbehörde auch Zugriff auf die bei der Polizeidienststelle des Heimatortes gespeicherten Daten hat. Ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstützer der PKK bzw. einer Nachfolgeorganisation nahesteht oder schon vor der Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden hat, muss der Betroffene mit einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen (vgl. VG Gelsenkirchen, a.a.O., Rn. 83 f. m.w.N.). [...]
Danach besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie dort als tatsächliche oder potenzielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer von der türkischen Regierung als terroristisch eingestufte Organisationen angesehen werden, wozu auch die YPG zählt, deren tatsächliche oder mutmaßliche Mitglieder oder Unterstützer besonders gefährdet sind (vgl. VG Gelsenkirchen, aaO., Rn. 98; VG Köln, Urteil vom 26. Januar 2022 – 22 K 9066/17.A -, juris). [...]
Hiervon ausgehend steht im zugrundeliegenden Fall zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters fest, dass dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgungsrelevante Maßnahmen in Anknüpfung an seine Mitgliedschaft in der YPG droht.
Der Kläger ist auch nicht nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, weil schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er sich bei seinem Einsatz für die YPG Handlungen zu Schulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.
Die maßgeblichen Ziele der Vereinten Nationen sind in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt und u.a. in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu den Antiterrormaßnahmen verankert. Aus diesem folgt, "dass die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen" und "dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen" (vgl. Erwägungsgrund 22 zur RL 2004/83/EG). [...] Daraus folgert der EuGH, dass dieser Ausschlussgrund auch auf Personen Anwendung finden kann, die im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu einer in der Terrorliste der Europäischen Union im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführten Organisationen an terroristischen Handlungen beteiligt waren, die eine internationale Dimension aufweisen (EuGH, Urteil vom 09. November 2010 – (- 57, 101/09 -, Rn. 82ff., NVwZ 2011, 285). [...]
Dies zugrunde gelegt, ist der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylG im zugrundeliegenden Fall nicht verwirklicht. Zwar sieht sich die PYD, der politische Arm der YPG, laut eigener Satzung als Teil der PKK, die ihrerseits auf der Terrorliste der Europäischen Union gelistet ist. Anders als die Türkei, für die YPG und PYD ebenso wie die PKK Terrororganisationen sind, sehen andere Länder – unter ihnen die USA und Deutschland – die syrisch-kurdischen Einheiten als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" (vgl. Deutschlandfunk vom 22. Juni 2022; VG Gelsenkirchen a.a.O., Rn. 108). Obwohl PYD und YPG allgemein als regional Gliederungen der PKK angesehen werden, sind sie selbst daher nicht auf der Terrorliste der EU gelistet.
Ist der Kläger folglich während seiner Zeit bei der YPG nicht für eine terroristische Organisation tätig gewesen, so fehlt es schon deshalb und unabhängig vom Gewicht der – hier fraglos umfangreicheren – propagandistischen Aktivitäten des Klägers für diese Organisation an der Verwirklichung des vorgenannten Ausschlussgrundes. [...]