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VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 03.02.2023 - 9 K 3501/21.F.A (Asylmagazin 5/2023, S. 167 f.) - asyl.net: M31374
https://www.asyl.net/rsdb/m31374
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen, arbeitsfähigen Mann aus Somalia:

1. Die Bedrohung durch Blutrache kann in Somalia jede Person treffen, sodass sie regelmäßig nicht an einen Verfolgungsgrund gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 AsylG anknüpft und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deshalb ausscheidet. Etwas anderes kann im Einzelfall gelten, wenn Minderheitengruppen durch Angehörige großer Clans bedroht werden.

2. Die Gefahr einer Blutrache kann gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG wegen eines drohenden ernsthaften Schadens den subsidiären Schutzstatus begründen. Im Falle des Klägers besteht die Gefahr der Blutrache jedoch zumindest nicht mehr.

3. Selbst wenn gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG von einem bewaffneten, innerstaatlichen Konflikt auszugehen wäre, fehlt es im Übrigen an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Klägers infolge des Konflikts.

4. Die humanitäre Lage in Somalia hat sich verschlechtert, da das Horn von Afrika in den vergangenen Jahren von starken Heuschreckenplagen, Überflutungen und Dürren betroffen war. Diese Umstände haben schon zu einer enormen Nahrungsmittelknappheit geführt, die sich aufgrund des Krieges in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Getreideexporte von dort weiter verschärft hat.

5. Ein junger, gesunder Mann, der keine schulische oder berufliche Bildung erfahren hat, über keine Anbindung an die Hauptstadt Mogadischu verfügt, dessen Familie nicht mehr in Somalia lebt und der das Land im jugendlichen Alter verlassen hat und seit 15 Jahren nicht mehr in Somalia war, wird es nicht schaffen, dort ein Existenzminimum zu erwirtschaften, sodass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion; andere Ansicht: OVG Sachsen, Urteil vom 12.10.2022 - 5 A 78/19.A - asyl.net: M31118; anderer Ansicht hinsichtlich Ls. 2: VG Potsdam, Urteil vom 30.08.2022 - 10 K 2842/18.A - asyl.net: M30898)

Schlagwörter: Somalia, Blutrache, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Geltendmachung von Blutrache begründet nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Blutrache kann jedoch vielmehr in Somalia jeden treffen und knüpft nicht an eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten flüchtlingsrelevanten Merkmale an. Dies ist mittlerweile ständige Rechtsprechung der erkennenden Kammer. In der Regel wird die Blutrache nicht durch eine tatsächliche Vollstreckung ausgeführt, sondern durch Zahlung einer Entschädigung in Geld oder Sachmitteln. [...] Aus dem genannten Bericht lässt sich entnehmen, dass grundsätzlich alle gesellschaftlichen Gruppen in Somalia von der Blutrache bedroht sind, wenngleich ein Unterschied zwischen Angehörigen der großen Clans und den Angehörigen der Minderheitengruppen im Einzelfall vorkommen kann. Dass ein solcher Einzelfall im Falle des Klägers gegeben sein, soll, hat dieser zu keinem Zeitpunkt substantiiert geltend gemacht. [...]

§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG scheidet aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt vorgetragen hat und auch eine Anhaltspunkte vorliegen, dass ihm in Somalia die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht. Als Todesstrafe kommt ohnehin nur dessen Verhängung und Vollstreckung durch einen staatlichen und gesetzlichen Verursacher in Betracht, was im Fall des Klägers nicht ersichtlich ist. [...]

Auch § 4 Abs. 1 S. 2. Nr. 2 AsylG scheidet aus. [...] Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr in seine Heimatregion keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung gemäß Art. 3 EMRK. Grundsätzlich kann zwar die Gefahr einer Blutrache den Status als subsidiär Schutzbedürftiger begründen. Dies ist jedoch im Falle des Klägers zu verneinen, weil keine, selbst bei Wahrunterstellung seines Vorbringens, keine Gefahr einer Blutrache mehr besteht. Nachdem der Vater des Klägers getötet wurde, besteht zur Überzeugung des Gerichts im Sinne des § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO keine Gefahr mehr, dass der Kläger Opfer einer Blutrache wird. Zudem sei erneut darauf hingewiesen, dass die vorgetragenen Vorkommnisse mittlerweile rund 15 Jahre zurückliegen. [...]

Eine Schutzzuerkennung gemäß § 4 Abs. 1 S. 2. Nr. 3 AsylG scheidet ebenfalls aus. Dies gilt selbst dann, wenn für die Herkunftsregion des Klägers von einem bewaffneten, innerstaatlichen Konflikt auszugehen ist. Das Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch bei der Annahme eines bewaffneten, innerstaatlichen Konfliktes die bloße Anwesenheit in einer solchen Region für die Zuerkennung eines Schutzstatus nicht ausreichend ist und beim Kläger, als jungen, gesunden Mann, die Erfüllung des Merkmals der "ernsthaften individuellen Bedrohung" gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG nicht erkennbar ist. Daher kommt eine Schutzgewährung gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG sowohl bei einem Abstellen auf die Hauptstadt Mogadischu, als auch bei einem Abstellen auf die Herkunftsregion des Klägers nicht in Betracht.

Der Kläger hat jedoch letztlich einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Es gibt Anhaltspunkte, dass dem Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Somalia droht. [...]

Der Kläger ist zwar gesund und arbeitsfähig. Der Kläger hat jedoch keinerlei Schulbildung erhalten und hat auch keine Berufsausbildung abgeschlossen. Zudem hat er keinerlei Anbindung in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Die gesamte Familie des Klägers lebt nicht mehr in Somalia und er selbst hat auch noch nie in Mogadischu gelebt. Hinzu kommt, dass der Kläger sich seit rund 15 Jahren nicht mehr in Somalia aufgehalten hat, sondern das Land vielmehr im jugendlichen Alter verlassen hat.

Weiterhin ist auch auf die verschlechterte humanitäre Lage in Somalia abzustellen. Das Horn von Afrika war in den vergangenen Jahren von starken Heuschreckenplagen, Überflutungen und Dürren gezeichnet. Diese Umstände haben schon zu einer enormen Nahrungsmittelknappheit in Somalia geführt. In den letzten Monaten hat sich durch den militärischen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland die Lage in Folge ansteigender Preise für Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt und Ausbleiben, oder erst wieder langsam anlaufenden, Getreideexport aus der Ukraine weiter verschärft.

Es steht daher zur Überzeugung des Gerichts gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO fest, dass es im Wege einer Gesamtbetrachtung der beschriebenen Voraussetzungen dem Kläger nicht möglich sein wird, in Mogadischu ein Existenzminimum aufzubauen, weil es an einer Mindestanbindung in der somalischen Hauptstadt fehlt. [...]