Zum rechtzeitigen Nachweis "zwingender Gründe" gegen eine Verteilungentscheidung:
1. Nachweise, die erst nach der Veranlassung der Verteilung durch die Behörde vorgelegt werden, können im gerichtlichen Verfahren bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung (§ 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG) nicht unmittelbar berücksichtigt werden. Aus ihnen kann sich aber ein Vollstreckungshindernis, das zur Rechtswidrigkeit der Androhung der Vollstreckung der Verteilung führt, sowie ein Grund für eine "Rückverteilung" nach § 15a Abs. 5 AufenthG ergeben.
2. Erst im Gerichtsverfahren vorgelegte Nachweise sind ausnahmsweise schon bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung zu berücksichtigen, wenn entweder (1) schon im behördlichen Verteilungsverfahren plausibel ein Sachverhalt geschildert wurde, aus dem sich ein zwingender Grund gegen die Verteilung ergeben kann, und die betroffene Person allein wegen der Kürze der Zeit an der Beibringung von Nachweisen gehindert war oder wenn (2) schon im behördlichen Verteilungsverfahren grundsätzlich schlüssige und lediglich in Einzelpunkten noch ergänzungs- bzw. erläuterungsbedürftige Nachweise vorgelegt wurden und die Behörde dem Betroffenen nicht durch einen Hinweis und eine Fristsetzung Gelegenheit zur Ergänzung bzw. Erläuterung gegeben hat.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Mit Bescheid vom 05.08.2022 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG der Aufnahmeeinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen in Bochum zu, forderte ihn auf, sich unverzüglich dorthin zu begeben und drohte ihm die Vollstreckung der Verteilung mit unmittelbarem Zwang an. Die sofortige Vollziehung der Zwangsandrohung wurde angeordnet. [...]
Mit seiner am 29.09.2022 erhobenen und am 13.10.2022 begründeten Beschwerde verweist der Antragsteller darauf, dass er sich seit dem ... 2022 in Bremen wegen akuter Suizidalität in stationärer Behandlung befinde. Nachdem er von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erfahren habe, habe sich sein psychischer Gesundheitszustand erheblich verschlechtert, da er Angst vor dem Verlust seiner sozialen Strukturen in Bremen habe. Er habe versucht, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen. Ein Freund habe dies verhindern können; er (der Antragsteller) sei von der Polizei in die psychiatrische Klinik gebracht worden. [...]
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verteilungsentscheidung ist nicht anzuordnen. Der Antragsteller hat vor der Veranlassung der Verteilung keine "zwingenden Gründe" gegen eine Verteilung nachgewiesen (§ 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG).
Ein ärztliches Attest zum Nachweis seiner Behauptung, gesundheitliche Gründe stünden der Verteilung nach Nordrhein-Westfalen entgegen, hat der Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren vorgelegt.
Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist die Berücksichtigung dieses Attests bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung ausgeschlossen. Denn § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG bestimmt, dass (nur) den vor Veranlassung der Verteilung nachgewiesenen Gründe bei der Verteilung Rechnung zu tragen ist. Dies schließt die Berücksichtigung späterer Nachweise im Gerichtsverfahren insoweit grundsätzlich aus, als es um die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung selbst geht. [...]
Zuzugeben ist der Beschwerde, dass die rechtzeitige Beibringung der Nachweise für einen zwingenden Grund gegen die Verteilung eine Herausforderung für die betroffenen Personen darstellt, insbesondere wenn es um gesundheitliche Gründe geht. Diesen Schwierigkeiten trägt die Rechtsprechung des Senats jedoch hinreichend Rechnung:
Erst im Gerichtsverfahren vorgelegte Nachweise sind bei der Prüfung, ob ein "zwingender Grund" im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG vorliegt, dann zu berücksichtigen, wenn entweder (1) der Ausländer oder die Ausländerin bereits im behördlichen Verteilungsverfahren plausibel und unter Darstellung der erforderlichen Einzelheiten einen Sachverhalt darlegt hat, aus dem sich ein zwingender Grund ergeben kann, und er oder sie allein aufgrund der Kürze der zwischen der Einreise und der Veranlassung der Verteilung liegenden Zeitspanne gehindert war, die für einen Nachweis erforderlichen Unterlagen und ärztlichen Stellungnahmen rechtzeitig vorzulegen (OVG Bremen, Beschl. v. 13.12.2021 - 2 B 352/21, n.v.) oder wenn (2) schon im Verteilungsverfahren "substantiierte Nachweise" für einen zwingenden Grund i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG vorgelegt wurden, die "grundsätzlich schlüssig" und "lediglich in einzelnen Punkten noch lückenhaft oder erläuterungsbedürftig" sind und die Behörde der Ausländerin oder dem Ausländer nicht durch einen Hinweis und die Setzung einer (kurzen) weiteren Äußerungsfrist Gelegenheit zur Ergänzung gegeben hat (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 04.04.2022 – 2 B 291/21, juris Rn. 9-11). [...]
Diese Auslegung von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG führt nicht dazu, dass in anderen als den oben genannten Fallgruppen die betroffenen Ausländer*innen schutzlos sind, wenn sie erst im Gerichtsverfahren nachweisen, dass der Verteilung gewichtige grundrechtlich geschützte Interessen entgegenstehen. Werden solche Umstände erst nach Veranlassung der Verteilung nachgewiesen, kann sich aus ihnen ein Hindernis für die Vollstreckung des Verteilungsbescheides ergeben, das sich auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsandrohung auswirkt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 29.01.2014 – 1 B 302/13, juris Rn. 25 f.). Dies kommt vor allem in Betracht, wenn eine Umsetzung der Verteilungsentscheidung die Betroffenen sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausliefern würde (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 27.04.2022 – 2 B 281/21, juris Rn. 16) oder zu einer Trennung von Familienangehörigen führen würde, die nicht einmal vorübergehend bis zur Entscheidung über eine Rückverteilung (§ 15a Abs. 5 AufenthG) zumutbar ist (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 22.03.2022 – 2 B 344/21, juris Rn. 18). Diese Rechtsschutzmöglichkeit kann die Verteilungsbehörde nicht dadurch umgehen, dass sie keine Zwangsandrohung erlässt, auf die Betroffenen aber trotzdem erheblichen faktischen Druck zum Aufsuchen der im Verteilungsbescheid benannten Aufnahmeeinrichtung ausübt (etwa durch zwangsweise Beendigung der Unterbringung in bremischen Aufnahmeeinrichtungen). [...] Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die oder der Betroffene an ihrem oder seinem tatsächlichen Wohnort verbleiben kann, bis die Verteilungsentscheidung durch eine "Rückverteilung" nach § 15a Abs. 5 AufenthG "korrigiert" wurde. In den Fällen, in denen ein Vollstreckungshindernis, das sich auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsandrohung auswirkt, gerichtlich festgestellt ist, ist überdies die Behörde, in deren Bezirk der tatsächliche Wohnort der Ausländer*in liegt, für die "Rückverteilung" zuständig (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 07.07.2022 – 2 B 104/22, juris Rn. 25), was zur Vereinfachung und Beschleunigung dieses Verfahrens beiträgt. [...]
Werden der Verteilung entgegenstehende Gründe erst nach der Veranlassung der Verteilung nachgewiesen, kann sich aus ihnen – z.B. bei ernsthaften Gesundheitsgefahren – ein Hindernis für die Vollstreckung des Verteilungsbescheides ergeben, das sich auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsmittelandrohung auswirkt (OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 31). Dabei ist, wenn die Vollstreckung – wie hier – noch nicht erfolgt ist, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des letzten Tatsachengerichts abzustellen (OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 38). [...]